Erstellt am: 13. 9. 2014 - 11:46 Uhr
Zusammen ist man weniger gemein
Behörden zufolge sind über 140 Österreicher in den Nahen Osten gereist, um sich an Kampfhandlungen von terroristischen Gruppen wie dem "Islamischen Staat" zu beteiligen. 60 Personen, die aus den Bürgerkriegsgebieten zurückgekehrt sind, werden vom Verfassungsschutz beobachtet. Alle paar Tage ist von jungen Menschen zu lesen, die im letzten Moment am Ausreisen gehindert werden – und von Eltern, die ihr Kind an eine Terrormiliz verloren haben.
Eine vor Monaten vom Innenministerium angekündigte "Deradikalisierungs-Hotline" lässt auf sich warten, während die Ermittlungsarbeit der Behörden vielfach ins Leere läuft. Der Moment selbst, in dem sich starre Überzeugungen zu Gewaltbereitschaft wandeln, lässt sich allerdings ohnehin nicht "wegexekutieren" oder verbieten.
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Neue Anlaufstelle
Eine Gruppe erfahrener Aktivisten und Experten bildet ab sofort mit dem Netzwerk sozialer Zusammenhalt eine erste professionelle Anlaufstelle für Betroffene. Diese Psychotherapeuten, Theologen, Sozialarbeiter und Politikwissenschaftler bieten diskrete Beratung an und möchten ihre Expertise bald auch zu Workshop- und Bildungsangeboten für Schulen, Behörden und Sozialarbeiter bündeln. Im Interview macht der Vizeobmann des Vereins und Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger deutlich, dass kein Weg daran vorbei führt, sich um Jugendliche zu kümmern, die Gefahr laufen, die falsche Abzweigung zu nehmen.
Das Netzwerk sozialer Zusammenhalt möchte Beratung und Prävention anbieten und mit anderen Initiativen zu einem Thinktank zusammenwachsen. Wie ist es zu eurer Anlaufstelle gekommen?
Das Ganze hat sich aus einer Notwendigkeit heraus ergeben, die der derzeitige Obmann Moussa Al-Hassan Diaw und ich in den letzten Monaten verstärkt bemerkt haben. Da es in Österreich bisher keine professionelle Anlaufstelle für Angehörige oder Bezugspersonen von zum Djihadismus neigenden Jugendlichen gegeben hat, haben diese Angehörigen und Bezugspersonen immer wieder Hilfe bei deutschen Institutionen gesucht oder auch bei Moussa und mir, weil sie gewusst haben, das sind zumindest irgendwelche Leute, die mal irgendwann in den Medien etwas dazu gesagt haben.
Wir haben dann teilweise im Caféhaus und in unserer Freizeit auch Eltern beraten. Das kann's aber nicht sein – das reicht nicht aus. Wir sind der Überzeugung, dass es dafür etwas Professionelleres und Größeres geben muss, und deshalb haben wir uns nun mit verschiedensten NGOs, Aktivisten, Leuten aus der Sozialwissenschaft, aber auch aus der islamischen Theologie und aus der Psychotherapie zusammengefunden, um zu versuchen, gemeinsam etwas in diese Richtung anzubieten.
Ganz wichtig ist euch dabei die formale und organisatorische Trennung von öffentlichen Stellen...
Absolut. Es ist sehr wichtig, dass so etwas nicht von der Polizei oder vom Innenministerium direkt angeboten wird, da sich Eltern nur dann frühzeitig mit einer Stelle in Verbindung setzen, wenn sie sicher sein können, dass damit der Sohn oder die Tochter nicht sofort bei der Polizei "verpfiffen" wird.
Bevor wir zu eurer konkreten Arbeit kommen – zur politischen und gesellschaftlichen Diskussion: Egal ob man durch ein Zeitungsforum scrollt oder sich im Fitnesscenter in die Garderobe setzt – die Meinungen sind ja sehr kontrovers. Manche reden von "vielen Tschetschenen", andere von einem genuin "migrantischen Problem". Gibt es einen gemeinsamen Nenner, außer dass das alles junge Leute betrifft?
Mary Kreutzer
Es ist definitiv nicht ein migrantisches oder nur ein tschetschenisches Problem. Es gibt zwei größere Gruppen. Auf der einen Seite gibt es tatsächlich junge Tschetschenen, die teilweise auch schon im Nordkaukasus radikalisiert worden sind und deren Radikalisierung gewissermaßen eine Spätfolge der russischen Tschetschenienpolitik der letzten 20 oder vielleicht sogar der letzten 200 Jahre ist.
Auf der anderen Seite haben wir auch sehr viele Jugendliche, die hier in unserer österreichischen Gesellschaft radikalisiert worden sind und deren Radikalisierung eine Antwort auf Defizite dieser Gesellschaft ist – und zwar völlig unabhängig von ihrem ethnischen Hintergrund. An uns haben sich auch mehrmals "mehrheitsösterreichische" Eltern gewandt, deren Kinder überhaupt keinen islamischen Migrationshintergrund haben und die offenbar diese Art Ideologie als maximale Herausforderung unserer Gesellschaft sehen und genau zu dieser djihadistischen Ideologie und nicht unbedingt zur Religion des Islam konvertieren.
Ist das überspitzt formuliert vielleicht so etwas wie ein jugendkulturelles "last resort", das immer noch auf jeden Fall aneckt?
Es hat definitiv einen jugendkulturellen Aspekt. Es gibt mittlerweile eine Subkultur in Wien und einigen anderen österreichischen Städten, die auch mit djihadistischen Gedanken provoziert.
Liegt es in der spezifischen Verantwortung der islamischen Glaubensgemeinschaft als offizielle Repräsentation der muslimischen Gläubigen in Österreich, sich "darum zu kümmern", oder sind der Staat Österreich und seine Zivilgesellschaft gefordert?
Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das auch nur gesamtgesellschaftlich gelöst werden kann. Die Vertreter der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich haben zu diesen radikalisierten Jugendlichen schon gar keinen Draht mehr. Wer einmal in einen djihadistischen Kreis gekommen ist, betrachtet selbst konservative Muslime, wie sie in der Glaubensgemeinschaft dominieren, oft nicht einmal mehr als Muslime. Leute wie Fuat Sanaç (Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich) haben durchaus Recht, wenn sie in Interviews sagen, "Was kann ich denn machen?". Die sind für Djihadisten keine Ansprechpersonen und keine Autoritäten.
Es gibt natürlich Verbindungen direkt hinunter zum Islamischen Staat und anderen djihadistischen Gruppen und durch das Internet und die sozialen Medien sind diese Kontakte massiv erleichtert worden. Aber grundsätzlich muss man schon davon ausgehen, dass es etwas ist, das hier entstanden ist und mit dem man sich auch hier auseinandersetzen muss. Da exportiert sozusagen Österreich die eigenen Extremisten in den Nahen Osten und verursacht ein Problem für die Zivilisten im Irak und in Syrien, die damit konfrontiert sind.
Du nimmst online sehr rege an der Debatte teil und postest auf deinem Facebook-Profil Meldungen, Interviews und Hintergrundinformationen zum Thema. Ich möchte eine Frage aufgreifen, die jemand gepostet hat:
(...) So, jetzt werd's'es mich vielleicht hauen. aber ich widerspreche der These, dass man diese IS Geschichte ganz vom religiösen Kontext loslösen kann oder sogar loslösen sollte. Wohlgemerkt: mit "dem Islam" oder einer essentialistischen Auffassung vom Islam hat das alles rein gar nix zu tun, denn das selektive Auslegen von Suren / Bibelstellen etc. zum Zwecke des Mordens war und ist immer eine soziale Konstruktion, die nur, und nur aus dem aktuellen historischen Kontext zu verstehen ist. Aber irgendwas muss das wohl schon mit Religion und der psychischen Funktion von Religion zu tun haben. Eine mythische Aufladung, die offenbar sonst kein Ventil findet. Heilserwartung. Ich weiß es nicht. Aber da ist etwas.
Was ich darauf mehr oder weniger geantwortet habe: Es stimmt schon, dass das im Sinne einer Sinnstiftung und Ordnung der Welt einen ersatzreligiösen Charakter hat. Was Leuten, die zu solchen Interpretationen von Religion neigen, ein Bedürfnis ist: eine klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse, einen Sinn des Lebens zu finden in einer vermeintlich sinnlosen Welt. Diese Sinnsuche hat natürlich schon auch etwas damit zu tun, dass man auf Dauer aus dem puren Anhäufen materieller Güter in einer individualisierten, vom Neoliberalismus geprägten Welt keinen "Sinn des Lebens" beziehen kann. Damit gehen Menschen unterschiedlich um, aber manche Personen mit großen psychischen Problemen finden eben in diesen Ideologien eine Antwort, die ihnen zumindest eine Zeit lang einen Sinn und eine Orientierung in dieser Welt gibt.
Wenn man sich das Morden und den Terror des selbsternannten "Islamischen Staates" ansieht: Ist der nicht in seinem konkreten Handeln am ehesten mit einem faschistischen System zu vergleichen?
Definitiv. Wenn ich mir die Bilder der Gräueltaten gegenüber Jesiden oder Schiiten ansehe, erinnert mich das sehr stark an die Gräueltaten der Wehrmacht im Osten und nicht so sehr an irgendwelche anderen Muslime.
Das sind Kriegsverbrechen, das sind genozidale Verfolgungen, die letztlich auch militärisch beendet werden müssen. Man kann nicht einfach zuschauen, wie ganze Bevölkerungsgruppen vertrieben oder massakriert werden.
Aber man kann im Vorfeld versuchen zu verhindern, dass Menschen sich diesen Gruppierungen anschließen.
Ja. Da wollen wir einen Beitrag leisten – bevor diese Personen als Djihadisten nach Syrien oder in den Irak gehen.
Was ist für dich als jemand, der schon Erfahrung damit hat, am wichtigsten, um zu den Betroffenen durchzudringen? Ist es die gebotene Augenhöhe, zu wissen, vor mir sitzt jemand, der sich selbst gut auskennt mit dem Islam und den Landeskulturen vor Ort? Gibt es einen "Vetrauensanker", der besonders wichtig ist?
Entscheidend sind nahe Bezugspersonen dieser Menschen. Man muss diese Menschen symbolisch umarmen und ihnen zeigen, dass sie einen Platz in dieser Gesellschaft haben und dass sie durchaus gerne auch religiös werden können, aber dass es Grenzen gibt – dort, wo sie beginnen, andere Menschen mit anderer Religion oder Überzeugung herabzuwürdigen.
Deshalb spielen Eltern, nahe Freunde und erwachsene Bezugspersonen für diese Jugendlichen eine extrem wichtige Rolle. In unserem Netzwerk sind selbstverständlich auch theologisch gebildete Muslime dabei, die den Jugendlichen sozusagen auch einen "anderen Islam" nahebringen können, aber das wirklich Entscheidende ist, dass die psychischen Bedürfnisse dieser jungen Leute gedeckt werden, die sie dazu gebracht haben, bei dieser Ideologie Halt zu suchen.
Man muss Bindungen zu unserer Gesellschaft stärken, den Menschen Zugehörigkeit vermitteln und ihnen Sinn vermitteln, und dabei genügt es nicht, ihnen "einfach" eine "andere Interpretation" des Islam nahezubringen. Vor allem: Wenn sie schon radikalisiert sind, dann sind für sie viele gemäßigte Muslime eben ohnehin schon "nicht mehr Muslime".
Man muss jene psychischen Bedürfnisse dieser jungen Menschen ansprechen, die sie dazu gebracht haben, da zu landen, wo sie gelandet sind. Deshalb gibt es in unserem Verein auch unterschiedlichste Expertisen: Leute wie mich, der als Politikwissenschaftler diese Bewegungen kennt, Theologen, aber eben auch Leute mit einer psychologischen, psychotherapeutischen und sozialarbeiterischen Ausbildung. In Wirklichkeit müssen all diese Expertisen in einem Team zusammenarbeiten – wir können nur voneinander lernen. Das war auch der Hintergrund, wieso wir verschiedenste Akteure aus der Zivilgesellschaft zusammenführen wollten.
Das klingt ja eigentlich gar nicht viel anders als eine umfassende Hilfestellung für andere Menschen, die aus verschiedenen Gründen am Rand der Gesellschaft landen, vom Suchtgiftproblem bis zur Obdachlosigkeit.
Ja, das sind teilweise ähnliche Ursachen, nur ist der Unterschied, dass jemand, der bei Drogen landet, sich primär selbst zerstört und noch nicht zur Gefahr für die gesamte Gesellschaft wird. Aber die psychischen Ursachen, die Bedürfnisse von Menschen, die in dieser Gesellschaft nicht befriedigt werden, sind einander nicht unähnlich, egal ob man bei irgendwelchen seltsamen Sekten landet, drogenabhängig wird oder bei djihadistischen Gruppierungen Sinn sucht. Das Problem am Djihadismus ist, dass gut organisierte Gruppen genau das aufgreifen – dass Leute, die "auf der Suche" sind, auch anagitiert und "abgeholt" und dann für konkrete Gewalttaten missbraucht werden.
Du hast gesagt, dass es sehr umfassende Betreuung und unterschiedliche Expertisen braucht – heißt das, dass die tatsächlichen Ursachen auch sehr unterschiedlich sind?
Ja. Allen von uns bisher betreuten Fällen gemein ist, dass es irgendwelche schweren psychischen Krisenerfahrungen im Alter der (Post)Pubertät zwischen 15 und 20 gegeben hat. Welche Auslöser existiert haben, wie diese Krisen genau verlaufen sind, ist sehr unterschiedlich. Das können psychische Probleme sein, Probleme mit der Berufsausbildung, mit den Eltern, mit der Familie. Letztlich sind bei vielen von jenen, die schon radikalisiert nach Österreich gekommen sind, etwa aus Tschetschenien, solche frühen extremen Erfahrungen – etwa Erlebnisse aus dem Krieg mit Russland – mitentscheidend dafür, dass sie diesen Weg gehen.
Was ist das, was man aus der medialen Berichterstattung als "Djihad" kennt, für liberale Muslime, die einen säkularen Staat bevorzugen?
Es gibt im Islam traditionell ein "Djihad"-Konzept, das aber im Wesentlichen als "große Anstrengung" übersetzt werden könnte und eben nicht als Krieg. Innerhalb dessen gibt es schon auch ein Konzept des Djihad, das kriegerisch ist. Das wäre aber dann eher analog zur Debatte über den "gerechten Krieg" in der katholischen Kirche zu sehen, weil das in der klassischen Theologie und Rechtsmeinung ein Verteidigungskrieg der Muslime gegen einen nicht-muslimischen Angreifer ist.
Was "moderne Djihadisten" wie die Kämpfer des "IS" von dieser traditionellen Auffassung unterschiedet, ist, dass sie erstens selbst entscheiden, ob so ein Fall vorliegt, während in der traditionellen Rechtsmeinung der Kalif, also der islamische Staat, der die gesamte Umma, also die islamische Gemeinschaft repräsentieren sollte, entscheidet, ob der Fall des Djihad auftritt.
In der traditionellen Rechtsmeinung aller muslimischer Rechtsschulen war der Djihad außerdem eine kollektive Pflicht, das heißt, die Umma muss sich gemeinsam gegen den Angreifer wehren und nicht jeder einzelne Muslim. Für "moderne Djihadisten" wird aus einer kollektiven Pflicht eine individuelle Pflicht. Diese individuelle Pflicht – auf Arabisch Fard al-Ayn – muss dann von jedem einzelnen Muslim erfüllt werden. Das sind die ideologischen Grundlagen, die dazu führen, dass junge Muslime sozusagen in Eigenregie befinden, es liege nun der Fall eines Djihad vor und "ich muss gegen die Ungläubigen kämpfen".
Weiterlesen
- Netzwerk sozialer Zusammenhalt
- taz.de: "Wie wir Firas verloren haben" Wie ein junger Österreicher aus Wien-Floridsdorf aus der Gesellschaft "aussteigt"
- profil.at: "Die Probleme des Rechtsstaates mit den Dschihadisten"
- profil.at: Fuat Sanaç von der Islamischen Glaubensgemeinschaft: "Was kann ich denn machen?"
- derstandard.at: "Propaganda auf Facebook – Im Netz der österreichischen IS-Fans"
- derstandard.at: Claudia Dantschke, Zentrum Demokratische Kultur in Berlin: "Für manche Mädchen ist der Salafismus eine Befreiung"
- derstandard.at: "Nach Tod von US-Journalist reagieren Twitter und Co schnell – Medien über Massaker an Jesiden sind noch abrufbar"
- washingtonpost.com: "I am a 14-year-old Yazidi girl given as a gift to an ISIS commander – Here's how I escaped"
- Video: "Salafisten. Wie gefährlich sind sie?" Diskussion mit den Islam-Experten Claudia Dantschke und Moussa Al-Hassan Diaw (Religionspädagoge, Vizeobmann "Netzwerk Sozialer Zusammenhalt")
- Buch: "Zwischen Gottesstaat und Demokratie. Handbuch des Politischen Islam" von Dunja Larise und Thomas Schmidinger
- Buch: "Old and New Terrorism" von Peter R. Neumann, International Centre for the Study of Radicalisation
- Zahlreiche Artikel: ICSR Z.B. "Offering Foreign Fighters in Syria and Iraq a Way Out"