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Petra Erdmann

Im Kino und auf Filmfestivals

4. 9. 2014 - 13:02

Die letzten Tage von Venedig

Endlich zeichnen sich die ersten Löwen-Favoriten ab. Heute: Willem Dafoe am Lido als "Pasolini" in Abel Ferraras enttäuschender Hommage an den italienischen Filmemacher.

Es schaut trüb aus. Es fehlt nur noch morgen Andrew Niccols Premiere "Good Kill" mit Ethan Hawke als Kampfpilot im Irakkrieg. Dann ist der klare und schon nervige Überhang an gebrochenen alternden Männerfiguren im 71. Wettbewerb bei den Filmfestspielen in Venedig passé. Samstag abend werden die Preise vergeben. Ich plädiere für "Red Amnesia" von Wang Xiaoshuai. Der Chinese hat sich gestern abend beim Pressescreening als würdiger Kandidat für den Goldenen Löwen erwiesen. Es ist eine Genre-verspielte Arbeit mit überraschenden Twists, Haunting Houses und Gesellschaftskritik, die auch an Michael Hanekes famosen Thriller "Caché" denken lässt, ohne dabei an Originalität einzubüßen. Lü Zhong als eigensinnige Witwe könnte auch das Rennen um den Darstellerinnen-Preis machen. Endlich hat ein komplexer Frauencharakter am Lido die Hauptrolle übernommen, die Schuldfragen und Paranoia aus Maos Kulturrevolution bis der Gegenwart clever heraufbeschwört. Auch Abel Ferrara hat heute einen Toten gerufen.

Die pessimistische Autoren-Visionen mag Abel Ferrara ("Bad Lieutenant") mit seinem Vorbild Pier Paolo Pasolini teilen. Sein Porträt des linken Poeten und Aktivisten Pier Paolo Pasolini ist dennoch zum ausstaffierten Edelkitsch mit Fernsehcharme geraten. "Pasolini" mit Willem Dafoe stöbert nach privaten Facetten und ideologischen Ideen in der Todesnacht einer Ikone, die seit den 60er Jahren in ihrem Schaffen einen neuen Faschismus und Kapitalismus auf Kosten des italienischen Proletariats und der Intellektuellen angeprangert hat. Doch über bürgerliche Betonfrisuren hinweg, vorbei an rotzigen Lockenköpfen von Strichern und großen Brillengestellen von Intellektuellen ist der Blick auf die außergewöhnlich leidenschaftliche und politische Künstler-Persona verstellt.

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Willem Dafoe sieht sich als Kreatur seines Regisseurs Ferrara und hat Pasolini sehr persönlich genommen:

Willem Dafoe Filmfestspiele Venedig

Abel Ferrara fantasiert "Pasolini" und seine Stricher in New Yorks Lower East oder Rio De Janeiro:

Abel Ferrara Filmfestspiele Venedig

Unter den 20 internationalen Wettbewerbsbeiträgen war in den letzten Tagen der Krieg angesagt und nicht nur auf der Leinwand. Auch im Kinosaal ging es rau zu. Ein Sitznachbar hat mir einen blauen Fleck auf meinen Oberarm gerempelt. Mein Diensthandy-Screen hatte ihn fünf Sekunden lang geblendet. Eine Frau hinter mir hat mir gestern auf den Dutt getippt, weil ich ihr wahrscheinlich die Sicht – auf Apostrophen in der Untertitelung – versperrt hatte. Streicheleinheiten und Sex gibt es ohnehin kaum bei diesen 71. Filmfestspielen von Venedig. Die ungehobelten Journalistenkollegen aus den Pressescreenings habe ich mit meinem Ärger verschont. Ich war bereits wegen des überraschend qualitätsheftigen Filmerlebnisses das mir "Nobi (Fires on the Plain)" wehrlos in Schockstarre und Trance verfallen.

Nobo

Venezia 71

"Nobi (Fires on the Plain)"

Wie in einem Horrorfilm hört die Frau angesichts des tuberkulösen japanischen Soldaten Tamura nicht mehr zu schreien auf. Tamura, wie ein braver Soldat Schwejk, schießt im Affekt zum ersten Mal in seinem Soldatenleben. Schuss. Gegenschuss und Schuss der Kamera. In Angst verzerrte Gesichter von Täter und Opfer. Innen eine blutbespritzte Holzhütte. Außen der grüne saftige philippinische Dschungel, durch den es Tamura und die Zuschauer bis zum Exzess weiterbeutelt. Regisseur Shinya Tsukamoto ist innovativ und intensiv. In atemloser Absurdität und komischer Brutalität hetzt uns Tsukamoto durch seinen herausragenden Kriegsschocker, der mit einem Statement des Regisseurs über den Zweiten Weltkrieg so schön nachhallt: "I can sense the seventy-year-old-horror and screams of those who decayed in the jungle."

Fatih Akin hat sich mit seinem kitschig belanglosen Drama "The Cut" über den Genozid an den Armeniern von 1915 der Chancen auf den besten Film hier am Lido schon selbst entledigt. Über den Massenmord und den Alltag der armenischen Gemeinschaft erfährt man (auch im Exil) so gut wie gar nichts. Und das nicht nur weil die Hauptfigur Nazareth auf der Suche nach seinen verlorenen Töchtern nach einem Schnitt in die Kehle verstummt ist. Ich verdächtige Akin eines Drehbuchkniffs, um seinen hier wenig charismatischen französischen Hauptdarsteller Tahir Rahim ("Un prophète") nur mit wenig Englisch im türkischen Akzent in seiner mehr als zweieinhalbstündigen Odyssee durch die halbe Welt irren zu lassen. Mit "The Cut" hat Fatih Akin so massentaugliche und -verdauliche Meterware über das heikle Thema des armenischen Genozids produziert, für die er in der Türkei sogar Morddrohungen einstecken musste.

in "Loin des hommes" zieht Viggo Mortensen gleich dreisprachig, auf französisch, arabisch und spanisch, in den Algerienkrieg im Jahr 1951. Diesmal hat sich das mehrsprachige Leinwand-Manöver bezahlt gemacht. Frei nach Albert Camus' Kurzgeschichte "Der Gast" stemmen sich im Neo-Western des Franzosen David Oelhoffen zwei Männer bei der Durchquerung der Wüste gegen die aufziehenden – auch kulturellen – Fronten zwischen Kolonialherren und Unabhängigkeitskämpfern. Nick Cave und Warren Ellis vermessen das weite Atlasgebirge genauso mit akustischer Eindringlichkeit wie das Oelhoffen mit der Ehre des in Algerien geborenen Französisch-Lehrers und seiner arabischen Begleitung Mohammed (Reda Kateb) macht.

Loin des hommes

Venezia 71

"Loin des hommes"

Männliches Gemetzel und Krisen stehen in diesem Wettbewerbsjahr eindeutig im Vordergrund. Auch die wenigen Lustspiele (magisch die Charles-Chaplin-Leichnam-Entführungskomödie "La rançon de la gloire" von Xavier Beauvois) und Liebesdramen (schnulzig schön "3 Coeurs" von Benoît Jacquot) haben große Schauspielerinnen wie Catherine Deneuve und auch Charlotte Gainsbourg in die Schranken von Nebenrollen gewiesen. Auch Lars von Triers erstes öffentliches Statement nach seinem Schweigegelübde via Laptop – und das Handy seines Hauptdarstellers Stellan Skarsgård auf der Pressekonferenz zu "Nymphomaniac Volume 2 (long version) Director's Cut" – kostete Charlotte Gainsbourg volle Aufmerksamkeit.

"Als 57jährige Frau bekomme ich im Hollywood-Kino keine Hauptrolle mehr", mit diesen Worten hat die tolle Frances McDormand die Traumfabrik am Montag entzaubert. Das sei die Realität von Schauspielerinnen ihres Alters und auch von jüngeren. Der amerikanische Bezahlsender HBO hat ihr nun mit der TV-Mini-Serie "Olive Kitteridge" erstmals in ihrer Karriere eine tragende Hauptrolle beschert. Unter der Regie von Lisa Cholodenko ("The Kids are all right") wurde die mittlerweile etablierte Präsentation von TV-Serien Premieren auf internationalen Filmfestivals mit "Olive Kitteridge" fortsetzt.

Olive Kitteridge

HBO

"Olive Kitteridge"

25 Jahre Ehe und Alltag der schroffen Mathematiklehrerin macht die großartige Frances McDormand in "Olive Kitteridge" endlich zum erhebenden Zentrum und bringen die Zuschauer zum Nägelbeissen und Beben (vor Freude) wie noch kein Kinoformat heuer am Lido. Auf der Pressekonferenz schwärmt die gesamte "Olive Kitteridge"-Crew natürlich vom Goldenen Zeitalter des Fernsehens, das immerhin schon rund 15 Jahre andauert. Als ich Regisseurin Lisa Cholodenko frage, ob die Menge origineller Dramaserien der letzten Jahre den Konkurrenzkampf im Serien-Business nicht druckvoll verstärkt haben muss und doch an die Substanz geht, sagt sie: "Sure, it's the Wild West outside there". Dennoch eine so intelligente, starke wie komplexe Frauenrolle, die mal nicht von Heulkrämpfen oder Männern durchgeschüttelt wird, findet im Kino nicht so rasch eine Wiedergängerin. Diese weibliche Dramafigur, die beinahe vier Stunden lang nicht zusammenbricht, das ist laut "Olive Kitteridge"- und "Mad Men"-Drehbuchautorin Jane Anderson eine erste Charakter-Revolution im Serien- wie im Filmfach.

PK

Venezia 71

Pressekonferenz zu "Near Death Experience"

Mit existentiellem Authentizitätsgetue und visuellem Handy-Video-Style scheitern die Regisseure Benoit Delépine und Gustave Kervern mit einem erschreckenden, (noch mehr) verfallenen Michel Houllebecq als Hauptdarsteller in der Reihe "Orrizonti". Wie ein zerrupftes, aber gut gelauntes depressives Hendl hat der Skandalautor anlässlich der Premiere von "Near Death Experience" den Kinosaal betreten. Die Zurschaustellung seines körperlichen Verfalles und der verkörperten Todessehnsucht wird nicht zu einem weiteren performativen Höhenflug von Houellebecq, wie man sich noch "Die Entführung des Michel Houellebecq" von Regisseur Guillaume Nicloux gerne überzeugen lassen konnte. Als frustierter Alkoholiker und Ex-Telekom-Mitarbeiter radelt Houllebecq im engen Sportdress in die Berge,um sich dort umzubringen. Ein langatmiger atmosphärisch wie pseudo-anarchischer Regieeinfall, der auch mit dem provokanten Parade- Intellektuellen nicht mehr als als lächerliches Kalkül erscheint.