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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

25. 8. 2014 - 20:02

There's a Riot Goin' On

"Flucht in die Flucht": Die Hamburger Band Die Sterne kehrt mit einem sehr guten Album wieder. Der FM4 Artist of the Week.

FM4 Artist Of The Week

Alle auf einen Blick unter fm4.ORF.at/artistoftheweek

Irgendwann reicht es dann auch. Der Druck macht uns kaputt. Wir finden uns in Konflikten wieder, es brennt. Optionen: Kampf, Kampf, Resignation, Kapitulation, Flucht, Verleugnung? Die Hamburger Band Die Sterne, aktuell zu dritt, ohne offiziellen Keyboarder, hat ein neues Album aufgenommen, es tönt ausdrücklich politisch und ist famos geworden.

Es ist das schon zehnte Studio-Album der Sterne, in einer über 20-jährigen Karriere, und es brummt vor Leben und Idee, zittert vor tollen Songs, Haltung und Soundeinfällen, Witz und Kraft. Wer hätte es noch erwartet? Hatte man sich in der jüngeren Vergangenheit vielleicht schon an Die Sterne gewöhnt? Eine hässliche Vorstellung.

Auf "Flucht in die Flucht" sind Die Sterne abenteuerlustig wir selten zuvor auf einer Platte. Man muss hier aber nicht gleich vom doofen Muster der "Neuerfindung" sprechen. Die Sterne waren ohnehin immer schon ein offenes System, durch das die Partikel nur so munter wirbeln durften.

Die Sterne

Die Sterne

Christoph Leich, Frank Spilker, Thomas Wenzel

Einzigartig ist, wie diese Band, die zwar im weitesten Sinne noch ins Format "Rockband" passt, Funk und Soul in ihre eigene Sprache übersetzt hat. Wie sie Disco und Dancefloor-Elektronik in den ihnen immer eigenen Sterne-Groove geschmolzen hat. Wie sie Easy-Listening, Bar-Jazz und smoothes Georgel auf ihrem Meilenstein "Posen" mit Politik und Agenda gekoppelt hat.

Cover Die Sterne

Staatsakt

"Flucht in die Flucht" von Die Sterne erscheint bei Staatsakt.

Dieses wild wuchernde Herumprobieren hatte bei den Sternen aber nie den schalen Geschmack des so genannten pflichtbesessenen "Eklektizismus": Kein Eklektizieren um des Eklektizierens Willen, keine Verwurstung von diesem und jenem, bloß, um als steiler Schubladendestroyer zu gelten. Gitarren UND Synthesizer? Echt? Wow, ich liebe Gitarren UND Synthesizer. Die Sterne sind kein wildes Hüpfen zwischen den Welten, bloß um neue Sensationen zu erwirtschaften. Der Sterne-Style ist Umarmungs-Style.

Anders neu klingen Die Sterne auf "Flucht in die Flucht" dennoch: Diesmal scheinen sie tief in den Wald von 60er-Jahre-Psychedelia gestiegen zu sein. Komische Kräuter und Krautrock, Halluzinogene, tatsächliche Rock-Rock-Momente, Folkiges, kleine Schnörkel und – ganz wichtig - sich umschmiegende, überlagernde, jubilierende Chorgesänge. Hier vibriert die Hoffnung. Die Stimmen dazu haben unter anderem die – sehr guten – jungen Hamburger Bands Zucker, Schnipo Schranke und Der Bürgermeister der Nacht beigesteuert. Man wird noch von ihnen hören.

Alexander Hacke von den Einstürzenden Neubauten verstärkt das programmatisch betitelte Duett "Ihr wollt mich töten": "Ihr wollt mich töten? Ihr fangt jetzt besser an. Ihr solltet es vollenden, bevor ich euch töten kann." Das Dagegen-Sein ist auf dieser Platte nicht bloß eine Drohung mit hohler Hand. Wohin mit der Angst, mit dem Hass? Die Welt zwingt uns in die Selbstoptmierung und die Selbstausbeutung, manchmal bleibt uns nur die Flucht: Urlaub, Rauschmittel-Zufuhr, Flucht in sich selbst hinein, in die Psychose, in die Krankheit.

Bonusinfo: Im Jänner 2015 werden Die Sterne beim FM4 Geburtstagsfest auftreten.

Und bist dahin:
16.10: Strom, München
17.10: PPC, Graz
18.10: Posthof, Linz

"Flucht in die Flucht" definiert das Gegenteil von Altersmilde. Kapitalterror, Stress, Gentrifizierung: "Bezahlbare Wohnung in den gängigen Viertel gesucht / Nach der Renovierung werden die Preise kaum merklich steigen/ Was für eine Immobilienblase? / Die Mehrheit will das so." heißt es in dem zentralen Stück "Innenstadt Illusionen". Eine große, wichtige Platte, die den Mechanismen und Möglichkeiten der Interaktion zwischen uns selbst und einem Leben, das uns kaputtmacht, nachforscht.

Machen wir uns selbst kaputt? Lassen wir uns uns selbst kaputtmachen? Zwischen der musikalischen Opulenz und ihren sexy Schwingungen, zwischen Krach-Explosionen, Synthesizer-Zwitschern, Percussion-Einlagen und holter-die-polternden Country-Überschreibungen schimmert die Hoffnung: "Und wem gehört sie jetzt, die Utopie? Halte mich nicht auf. Aber halte mich." Es ist nicht einfach. Die Sterne wissen das. Nieder mit den Umständen.