Erstellt am: 23. 8. 2014 - 12:37 Uhr
Berlin Atonal
Dimitri Hegemann, den man in Berlin vor allem als Techno-Pionier und Gründer des Tresor Clubs kennt, hatte bereits 1982 das erste Atonal-Festival in Berlin veranstaltet und gemäß des Imperativs "Höre mit Schmerzen" eine Institution für Krach und Lärm daraus gemacht. Im Programm waren in den Jahren bis 1990 Industrial-Bands wie Einstürzende Neubauten, Psychic TV oder Test Dept. - krachige, schwer konsumierbare Musik, die in den frühen Achtzigern von vielen als krank und schockierend empfunden wurde. Berlin Atonal stand für Underground-Musik als Gegengewicht zum Mainstream. Auch um der heutigen Musikverflachung und Technospaßkultur etwas entgegen zu setzen, wurde das legendäre Festival nach 23 Jahren Pause letztes Jahr reaktiviert.
Vor der offiziellen Eröffnung gab es am Mittwochnachmittag den vierstündigen Dokumentarfilm "I Dream of Wires" zum ersten Mal in Deutschland zu sehen. Pioniere der elektronischen Musik und Produzenten aus verschiedenen Epochen kommen darin zu Wort, erzählen und schwärmen von ihren modularen Synthesizern mit den imposanten Kabelwäldern.
Eröffnung mit Minimal Music
Am Abend tat man es dem Festival CTM (Club Transmediale) gleich und überließ für das Eröffnungskonzert die Bühne einem Vertreter der "ernsten" Musik. Das Frankfurter Ensemble Modern führte "Music for 18 Musicians" von Steve Reich auf, eines der berühmtesten Werke der Minimal Music überhaupt. Der US-amerikanische Komponist gilt als Urvater minimalistischer Musik - bereits um 1958 begann er sich mit elektronischer Musik zu beschäftigen und experimentierte unter Verwendung mehrerer Tonbandmaschinen mit aneinandergereihten Samples, deren Phasen er verschob.

Berlin Atonal
Das Ensemble führte am Mittwoch eine Stunde lang diesen sehr kleinen akustischen Organismus auf. Mehrfach doppelt gespielte Instrumente bilden dabei den Kern des Orchesters. Durch die ähnlichen Klangfarben und fast gleich gespielten Tonfolgen heben sich langsam Unterschiede heraus, die ein fehlerfreies Computergramm verschlucken würde. Damit lebt die Komposition von sogenannten "Impulsen", wie Steve Reich sie nennt. Jeder Impuls dreht sich um einen Akkord und alle Impulse bilden gemeinsam das Stück.
Wer weder von Neuer Musik noch von Minimal Music übermäßig angetan ist, tat sich naturgemäß schwer bei der spröden Aufführung. Immer wieder musste man sich sagen, dass das monotone Geklöpfel außergewöhnlich sei, weil es beispielhaft die Techniken der späteren Elektromusik vorwegnahm: Loops, ständige Wiederholung, Phasing - und das ganz ohne Elektronik! Und während der endlosen Wiederholungen und Schleifen blieb Zeit und Muße das schroffe Umfeld der riesigen Halle auf sich wirken zu lassen. Mit etwas Anstrengung gelang es, sekundenlang die entstandene Langeweile in einen erhabeneren, angenehm-meditativen Zustand umzudeuten. Die majestätische Architektur des entkernten Kraftwerks ist ja nur bei solch speziellen Ereignissen zu betrachten: 30 Meter hohe Betonwände auf mehrere Ebenen, endlose Säulenreihen, zehn Meter tiefe, mit Sicherheitsnetzen bespannte Betonschluchten.

Berlin Atonal
Die Steve Reich-Aufführung steht eigentlich im Gegensatz zur Programmatik der Atonalen Musik: sie kann langweilen, stört aber auch nicht weiter und lässt sich so nebenher hören. Andererseits stellte dieses Konzert am Eröffnungsabend die Traditionslinie von Minimal Music zu elektronischer Musik und Techno her.
Alte Recken und junge Produzenten
An den folgenden Tagen wird es wesentlich lauter, wummeriger, verstörend-atonaler zu gehen. Höhepunkt des Festivals ist wohl der Samstag, wenn die Industrial-Pioniere Cabaret Voltaire ihr erstes Konzert seit über 20 Jahren im Kraftwerk geben.

Berlin Atonal
In den siebziger Jahren zählte das Sheffielder Trio Cabaret Voltaire neben der Band Throbbing Gristle zu den Begründern des Industrial. Geräusche und Lärm wurden mit Punkelementen, manchmal auch mit Funk kombiniert. Mit ihrer Mischung aus Tanzmusik, Techno, Dub und Verstärkerlärm wurden Cabaret Voltaire eine der einflussreichsten Bands der letzten vierzig Jahre. Klassiker von früher werden am Samstag aber wohl nicht zur Aufführung kommen, eine Art Installationsprojekt zwischen Videofilm und Klangkunst, mit und ohne Beats ist angekündigt.
Neben den alten Recken und Legenden hat Dimitri Hegemann aber auch viele jüngere Produzenten, die an der Grenze von Geräusch und Clubmusik forschen, versammelt. Donato Dozzy, der wichtigste Techno-Produzent Italiens, tritt schon zum zweiten Mal in Folge im Kraftwerk auf. Hinter dem wenig griffigen Bandnamen Shxcxchcxsh verbirgt sich ein schwedisches Techno-Duo, das bedrohliche Klänge produziert. Auch Produzent Abdulla Rashim hat sich den eher düsteren Sounds verschrieben. Als jüngerer Vertreter der abstrakten Tonkunst wird der in London lebende Luke Younger alias Helm empfohlen. Dunkel dräuend und orchestral episch könnte es beim Europadebüt von Imaginary Softwoods klingen. Beim weltweit ersten Konzert von "The End Of All Existence" wird es hingegen "droning cinematic ambient techno" zu hören geben.