Erstellt am: 21. 8. 2014 - 10:55 Uhr
Welcome to Hill Valley, California
Zur Einstimmung: Ladies and Gentlemen, The Four Aces!
Angefangen hat alles mit einer E-Mail vom Department of Social Services. Bürgermeister Red Thomas begrüßte mich auf das Herzlichste in der Gemeinde von Hill Valley, California: "a nice place to live". Um meine Ankunft am 10. August 1955 gebührend zu feiern, solle ich mich doch bitte in das städtische Melderegister eintragen: Danach könne man mir meinen 1955er Namen und Identität, meine Adresse und meine Telefonnummer mitteilen. Es wäre mir dann sofort möglich die anderen Bewohner von Hill Valley telefonisch zu kontaktieren und ihnen eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Dazu zählen Studenten der Hill Valley Highschool, Mitarbeiter der Texaco Tankstelle oder des Diners, aber ich könne auch konkrete Namen aus dem Telefonverzeichnis suchen, wie etwa Dr. Emmett L. Brown, Biff Tannen oder Marty McFly.
Secret Cinema
Nach der Registrierung im Melderegister hieß ich nun Robert Henry, wohnhaft in der 17. Straße, Hill Valley. Telefonnummer 214 863. Schüler der Hill Valley High School, kurz vor dem Abschluss. Der Abschlussball mit dem Motto "Enchanted under the sea" steht kurz bevor. Ich solle mich daher am 10. August 1955 bei einem noch geheimen Treffpunkt einfinden, am besten mein Handy und elektronische Geräte daheim lassen (hallo, 1955!), mich in der Mode der 50er Jahre kleiden und einige Utensilien mitbringen: meine Hausübung (klar!), eine rote Sonnenbrille, ein Kinderfoto und eines meines Lieblingsschauspielers der 50er. Mich würde nicht mehr erwarten als höchstpersönlich ein Teil der Hill Valley Town Fair - und somit von "Back to the Future" - zu werden.
Secret Cinema / Al Overdrive
And we're back in time
Und irgendwie surreal war es schon. Schon auf dem Weg mit der Londoner Tube raus nach Stratford nahe eines bekannten Einkaufszentrums stiegen immer wieder Leute in 50er-Jahre-Klamotten ein, die Burschen mit Hosenträgern, die Mädels in Kleidern und mit Pony-Frisur. Ich selbst hatte mir eine kesse Fliege zugelegt, meine Mathe-Hausübung unter dem Arm und eine rote Sonnenbrille auf (Streber!). Man nickte sich wohlwissend zu und erblickte schon von Weitem die große Uhr des Rathauses, die heute Nacht vom Blitz getroffen werden soll.
Ich kann mit Rollenspielen nur bedingt etwas anfangen, aber der Film, der hier zelebriert werden sollte, ist immerhin "Zurück in die Zukunft", der erste Teil einer Kult-Trilogie, die meine Jugend gerettet und meine Liebe zum Film entfacht hat. Und Secret Cinema - die austragende Event-Agentur - hat sich mit ihrem Chef Fabien Riggall im Londoner Raum einen Namen für solch immersive Events gemacht und eine beeindruckende Community aufgebaut. Jedes Monat lockt das Team von Secret Cinema ihre Besucher in "reale" Filmwelten: ins "Grand Budapest Hotel", in "Ghostbusters" oder mitten ins Gefängnis von "The Shawshank Redemption", wo es durchaus auch etwas ruppiger zugehen kann und man von Gefängniswärtern übelst beschimpft wird. Denn immer ist man als Besucher Teil der Inszenierung, nimmt eine dem Film entsprechende Rolle an, muss mit SchauspielerInnen vor Ort agieren und Storylines des Films erleben. Ein Geschäftsmodell, das sich bezahlt macht: rund 20 Termine für "Back to the Future", eine Karte kostet etwa 65 Euro, pro Termin rund 3.000 Besucher. Die Tickets waren innerhalb weniger Stunden ausverkauft.
Secret Cinema / Al Overdrive
Kinderkrankheiten anno 2014
Das größte Projekt, das Secret Cinema je inszeniert hat, stand anfangs jedoch unter keinem guten Stern. Die ersten beiden Termine mussten kurzfristig abgesagt werden. Man informierte per Facebook, dabei hatte niemand ein Handy mit (siehe 1955-Anweisung) und kam daher umsonst. Die leidtragenden Besucher reagierten mit Unverständnis, ein durchaus ernstzunehmender Shitstorm stand am Beginn einer eigentlich tollen Idee. Denn Hill Valley wurde am Rande Londons mit viel Liebe nachgebaut, es gab eine Radiostation, die 50er Jahre Hits wie "Mr. Sandman" rauf und runter spielte. Man durfte in die Häuser der BTTF-Protagonisten blicken, im Bett von George McFly in Sci-Fi-Magazinen blättern oder Lorraine McFly eine Liebesbotschaft auf die Kommode legen.
Secret Cinema / Al Overdrive
Der Höhepunkt war sicherlich aber das Open Air Screening des Filmes, projiziert auf das Rathaus, höchstpersönlich eingeleitet von Co-Autor und Produzent Bob Gale, begleitet von SchauspielerInnen, die die wichtigsten Szenen live mitspielten. Fireworks und Stunts inkludiert, wer den Film kennt, kann es sich in etwa vorstellen. Und glaubt mir: Es ist einfach ein unglaubliches Gefühl, wenn der Delorean um die Ecke fährt oder 3.000 Menschen "The Power of Love" von Huey Lewis and the News singen. Fanherz sagt yeah!
Immersive Film-Erlebnisse dieser Art haben durchaus Zukunft. Der Blockbuster-Markt hat seit Jahren mit immer größeren wirtschaftlichen Einbußen zu kämpfen, Millionen-Investitionen wie jüngst etwa "The Lone Ranger" oder "R.I.P.D." konnten nicht mal annähernd ihre Produktionskosten einspielen. Da ist es nur selbstverständlich, dass im Zeitalter sozialer Medien mit immersiven Filmwelten der Zuschauer stärker an das Produkt gebunden werden soll. Produzenten haben das erkannt, Ridley Scott erlaubte höchstpersönlich eine Adaption von "Alien" und "Prometheus" und Bob Gale kam auch jedes Mal persönlich aufs Podest der Hill Valley Fair, um ein paar Grußworte zu sprechen. Und wer sich abseits dieses Events in London etwas umsah: Selten konnte man in Handelsketten soviele Merchandising-Artikel des Films kaufen.
Bei BTTF haben sich Secret Cinema allerdings etwas übernommen. Es war rückblickend unmöglich, 3.000 Menschen in eine inszenierte Welt zu integrieren, ihre mitgebrachten Gegenstände einfließen zu lassen, ja schlichtweg auch nur mit allen zu sprechen. Hinzu kommt, dass man diese auch vorab intensiver hätte einbeziehen müssen, ein paar Mails vom Bürgermeister reichen da nicht. Denn bis kurz vor Beginn wussten viele nicht einmal, wo der Treffpunkt sein würde (Hinweis: es war ein GoogleMaps-Link in einer der Mails, duh!) und waren mit den Vorbereitungen und "Regeln" solcher Events schlichtweg überfordert. Auch das muss man bei solchen Inszenierungen als Massenevent berücksichtigen. So artete es stellenweise in einen Theme-Park aus, mit Burger-Buden und Imbiss-Ständen, sogar ein Österreicher durfte dort Schweinsbraten und Würstel verkaufen. Hat alles nichts mit dem Film und schon gar nicht mit 1955 zu tun. Und das Einkaufszentrum im Hintergrund mit den altbekannten Industrie-Logos war der Illusion auch nicht zuträglich.
Secret Cinema / Al Overdrive
Wäre es ein anderer Film gewesen, wäre ich wohl enttäuscht gewesen. In punkto Immersion geht da noch viel mehr, und das soll Kino ja schließlich leisten: Menschen für eine gewisse Zeit aus ihrem Alltag entführen und sie vor und nach dem eigentlich Film noch mit der Geschichte beschäftigen. In diesem Punkt blieb die "Zukunft des Kinos" (Future Cinema ist der frühere Name von Secret Cinema) um einiges zurück. Ein verrücktes Erlebnis und spannende Tendenz ist es allemal. Nicht nur für Zeitreisende und Film-Nostalgiker.