Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Für immer Liebe, später harte Bestrafung"

Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

16. 8. 2014 - 02:21

Für immer Liebe, später harte Bestrafung

Musikrundschau am FM4 Frequency am Freitag: Marteria, Crystal Fighters, Skrillex. Und mehr.

FM4 Frequency 2014

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Einmal die Umarmung spüren. Am Freitag darf man auf und vor der Main Stage sehen, wie die Macht der Popmusik in all ihren Facetten und Gerüchen dann doch die Luft mit Liebe füllen kann. Und eventuell auch in Lila-Töne färben. Wer es noch nicht weiß: Man muss den Begriff "Popmusik" weit fassen. Zudem ist an diesem Tag wieder einmal schon sehr früh zu lernen, dass HipHop die Queen ist. Nicht zuletzt und gerade auf Festivals.

Der Nachmittag auf der Hauptbühne wird von der deutschen Band Claire, momentan recht heiß gehandelt, eröffnet. Der Soundentwurf von Claire versucht Synthie-Pop, ein paar Tupfer Weltmusik und Indierock-Attitude zu einem gar slicken Designobjekt zu schmelzen, dabei aber schon auch noch frech und wild rüberzukommen.

clair auf der bühne

Patrick Wally / FM4

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Lieb und okay gemacht, die Frontfrau bemüht zu popstarhaft und angelernt die Expressivität. Es wird auf mehreren Standtrommeln getrommelt, es soll das Urwüchsige demonstrieren - eventuell von Imagine Dragons abgekupfert, die Idee. Für zwei Jahre ist es jetzt dann auch wieder einmal gut mit dem tribal-haften Gepoltere.

Nach den wie immer sehr guten, wohl aber um 15 Uhr im Tageslicht etwas unglücklich positionierten HVOB, kann der gar nicht so geheime Headliner des Tages das Gelände schon in einem Ausmaß füllen, das in den Tagen zuvor noch nicht gar so oft zu erleben gewesen ist: Marteria. Der deutsche Rapper kommt mit bunter Badehose und Entourage, auch die Sängerin Miss Platnum, häufige Komplizin von Marteria, ist am Start.

Die bestens geölte und gelaunte Partymaschinerie bekehrt selbst Menschen, die aktuell nicht gar so viel Marteria im Plattenregal stehen haben. Der Doppel-Hitschlag "Kids" und "Lila Wolken", wogende Menschen, Funken in der Atmosphäre, ist einer der erhebendsten Momente des Wochenendes bislang. Der Zynismus hat kurz Pause.

marteria beim bad in der menge

Patrick Wally / FM4

Dass die zentrale Zeile des Songs "Kids" - "Keiner hat mehr Bock auf Kiffen, Saufen, Feiern" – bei Konzerten und auf Festivals das Publikum, genau konträr zu den im Text dargelegten Thesen, zum Fahrenlassen aller Zwänge motivieren würde, wird Marteria freilich schon gewusst haben, als er sich dieses feine Lied gegen die Verbiederung ausgedacht hat. Und so soll es dann auch geschehen.

Danach wird der Sommer der Liebe mit der fettesten Hormon-Kanone in den Himmel gesprüht. Der Pfauenkönig tanzt. Die Message der Band Crystal Fighters - das ist die Liebe. Daran lassen diese herzensguten Hippies keinen Zweifel. Die Crystal Fighters haben sich mittlerweile zur Selbstpersiflage überhöht. Sie tragen aus Federn, allerlei Tand, Glitzer, Ketten, bunte Tüchern, Zaubersteinchen und Schnüren zusammengetackerte Fantasie-Uniformen. Uniformen des Friedens.

der sänger der crystal fighers

Patrick Wally / FM4

Frontmann Sebastian Pringle ist endgültig zum ewigen Priester des Lichts geworfen. Er gleicht exakt jenem aztekischen Magier, von dem er vor zwei Jahren an einem Strand auf Goa geträumt hat. Mit verschwörerischen, ausladenden Gesten bewegt er das Publikum dazu, in "Oooh-Oooh-Oooh"-Chöre einzustimmen. Mit seinen Händen formt er ein Herz und sendet Strahlen in die Welt.

Den Crystal Fighters gelingt eine im besten Sinne alberne Balance zwischen kompletter Ernstmeinung und comic-hafter Überzeichnung. Zur Botschaft der weltweiten Verschwesterung passen ihre Lieder: Folkloristisches in inniger Umschlingung mit weggetrippter Rave-Musik. Das ist lustig und gut. Die Crystal Fighers haben aber eben auch ein paar schöne Lieder: "Solar System", den wenig subtilen Theme-Song "Love Is All I Got" oder den wie aus dem König der Löwen abgehörten Überhit "At Home".

Als die Crystal Fighters ihr Publikum auffordern, Vibrationen der Liebe ins Universum zu senden, um die unendlichen Weiten von unserer irdischen Existenz zu informieren, muss man angesichts der Flauschigkeit, die dieses Konzert tatsächlich generiert, auch wirklich nur ganz kurz husten. Peace, man, hier ist die Heilung.

fiva auf der bühne

Franz Reiterer / FM4

Abgesehen von den charmanten österreichischen Indieboys von The Beth Edges und der wie üblich wunderbaren Fiva am frühen Nachmittag geschieht am Freitag derweil auf der Green Stage vornehmlich schwer Vernachlässigbares. Rock und Punk-Pflege von Gruppen wie den Broilers, Millencolin und NOFX. Das sind die Großväter von Blink-182. NOFX haben in grauen Vorzeiten die Sound-Idee von Bad Religion Richtung Infantilismus geführt und in den 90ern auch ein paar recht gute bzw. im Klima der damaligen Zeit ertragbare Platten veröffentlicht. Sie definieren heute noch – bzw. tun zumindest so – das Konzept "Furzgeräusch" als einen tragenden Pfeiler ihrer Ästhetik.

Zum Glück finden sich auf der Main Stage, vor dem großen, großen Endzerstörer, zwei Quasi-Co-Headliner ein, die durch die Abwesenheit von Brachialität in ihren Perfromances Balsam spenden. Im Gesamtzusammenhang betrachtet zwei seltsame, also sehr gute Acts. Zunächst der belgische Sänger, Musiker und Produzent Stromae, danach Lily Allen.

Stromae auf der Bühne

Patrick Wally / FM4

Stromae baut einen smoothen Kauderwelsch-Pop aus Chanson, leisen House-Beats, Synthie-Pop. Subtil, dabei extrem charttauglich – und bekanntermaßen auch extrem charterprobt. Dass die oft quietschbunt und im schief karierten Mäntelchen daherkommende Musik von Stromae, nicht selten schwerwiegende, dunkle Themen verhandelt, gibt der Sache nötige Reibung. "Alors On Danse", der Megahit, ist eben nicht bloß stumpfe Partyaufforderung, sondern beschreibt den Tanz als Verdrängungsmechanismus, Eskapismus, Kompensationsmöglichkeit oder auch blankes Leugnen, wenn das Leben gerade triste Abwärtsspiralen beschreibt.

Lily Allen ist dagegen schlicht große naiv-kokette – mit Babyfläschen als Bühnendekoration und ins Girlie-Girlie-Outfit anno Spice Girls gewandet - Entertainerin, die zwischen Bubblegum, Dub- und Reggae-Anleihen, Bläsersätzen, Second-Hand-Soul, Früh-80er-Party-HipHop und leichtem Dance-Pop nicht viel mehr wollen muss, als ein paar tolle Tunes zu finden und sichtlich Spaß am Small Talk mit dem Publikum - und sich selbst - zu haben.

lilly allen und ihre bühnendeko

Patrick Wally / FM4

Den notorischen Song "Hard Out Here" (der "Dschungelcamp-Song") kündigt sie, wie fast alle Stücke, mit verschuselten, leicht zusammenhanglosen Privatanekdoten an, nur um sich am Ende ihrer Ausführungen wieder selbst und ihrem Song zu wiedersprechen: "It's not THAT hard, really." Kicher.

Da ist vieles nicht zu Ende gedacht, sicher, und bei vielen ihrer Entlehnungen und Appropriationen diverser Musikstile gerät Lily Allen da und dort während des Transfers in unglückliche Schieflagen und Missverständnisse. Wie es scheint, will bei Lily Allen Pop wirklich nur Pop sein. Tanzen wir eben weiter. Es fühlt sich doch so richtig an.

Der Headliner auf der Mainstage ist am Freitagabend Skrillex. Gasp! Skrillex, der alte Spalter, die Fashion-Ikone. Skrillex ist bekanntlich einer der Hauptgründe, warum Menschen, die wenig von elektronischer Musik verstehen, elektronische Musik doof finden dürfen. Skrillex versteht elektronische Tanzmusik als Weiterführung von Nu Metal mit anderen Mitteln. Ein Anflug von Genialität, wenn man das Ziel hat, jungen Menschen das Ventil zum Druckablassen zu sein. Daraus lässt sich eine Karriere zimmern. Die Akne in der Seele und die Furchen im Herz müssen mit der groben Bürste behandelt werden - wer das nicht weiß, soll kurz im Kinderzimmer seines eigenen 15-Jährigen Ichs nachschauen.

skrillex auf der bühne

Patrick Wally / Fm4

Es geht hier bloß um Energie und Anfeuerungs-Signale. Skrillex weiß das auch. Die Art und Weise, mit der er sich selbst in kürzester Zeit zum Superstar und zur unverkennbaren Marke modelliert hat, sucht in der jüngeren Vergangenheit Vergleichbares.

Steile Behauptung: Was Skrillex da mithilfe zweier CD-Player und unterstützt durch epochal schrille Visuals so veranstaltet, ist sehr, sehr gut. So brummt und fiepst und knallt es. Eine schnell geschnittene Collage, die die Synapsen sprengt. Ein einziges Triggern von Intensität; rasante Tempowechsel, Dubstep, Maschinenkreischen, HipHop, Aphex-Twin-haftes Geschredder, Dancehall, R'n'B-Comedowns, Großraum-House und kurz aufziehende Tranceflächen, alles durch den Skrillex-Häcklser geprügelt und mit Sirenen zugehupt.

Ist es die künstlerische Verarbeitung der stroboskophaften Reizüberflutung durch diese Welt, die das Internet ist? Wir werden alle sterben. Dennoch: Oft, ja, oft soll das Leben ein gewaltiges "Oh My God!" sein – aber bitte nicht immer und ständig. Dauernd Orgasmus, das macht doch müde.

skrillex auf der bühne

Patrick Wally / FM4