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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

13. 8. 2014 - 10:45

Weirde Privatwissenschaft

Der New Yorker Romancier Jonathan Lethem hat ein Buch über den Talking-Heads-Klassiker "Fear of Music" geschrieben. Es ist sehr gut.

Im anglo-amerikanischen Raum ist es in der Pop-Kritik recht üblich und verbreitet, dass ein erzählendes, zurückblickendes, fühlendes Ich als Interface die emotionale Verbindung zwischen Leserschaft und Material herstellt. "Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich das erste Mal xy gehört/gesehen/gelesen habe...." mag sicherlich ein ultimativ einladender, direkter und im Adressaten selbst Gefühle hochkitzelnder Einstieg sein - simpel und abgekaut ist er schon auch.

Im Deutschen hat lang, wenngleich freilich genauso subjektiv (wie alles) – dabei trotzdem: auf Erfahrungswerten und objektiv Messbarem aufgestellt – ein eher theoretisches Analysieren vom Elfenbeinturm aus regiert. Das ändert sich gerade bekanntlich, wie dir das Internet sicher mithilfe von 5 besten Gründen erklären wird. Beide Zugänge haben klarerweise ihre Meriten, unterschiedliche Mischformen existieren.

Die hochempfehlenswerte "33 1/3"-Reihe des englischen Verlags Bloomsbury beschreitet in der Hinsicht der Musikkritik, einem angeblichen Sujet für verknöcherte Spinner, Outsider und Orchideenfreunde, die ihren Plattenspieler wie einen Fetisch heiligen, schon seit über 10 Jahren und gut 100 kleine Bändchen lang immer neue interessante Wege. Pro Büchlein der Serie widmet sich jeweils ein Autor einem anderen wichtigen, klassischen, relevanten Album der Musikgeschichte.

Die Beatles, die Beach Boys, die Beastie Boys, Nirvana, ABBA, Radiohead, Fleetwood Mac, Nas, Tori Amos, Aphex Twin, Prince und viele mehr wurden bislang mit einem Huldigungsschreiben bedacht. Es gab den Erlebnisaufsatz, die fast schon akademische Analyse, Interviewcollagen; der Songwriter John Darnielle von den Mountain Goats hat sich für seinen Beitrag über "Master of Reality" von Black Sabbath gar einen Kurzroman herbeiimaginiert, der die Gewichtigkeit besagter Platte transportieren sollte.

2012 hat sich mit dem vielgepriesenen New Yorker Autor Jonathan Lethem nach überwiegend Journalisten auch ein amtlich verbriefter Romancier einem Klassiker angenommen: "Fear of Music", dem dritten Album der Talking Heads aus dem Jahr 1979.

Die Platte ist die zweite, die das New Yorker Quartett mit Brian Eno aufgenommen hat, sie markiert einen Übergang vom nervösen Artschool-Funk und Bubblegum-Postpunk der Vorgängerplatten Richtung experimentellerer Darreichungsformen, stärkerem Einfluss von Disco und hin zu Flirts mit Elektronik und afrikanischer Musik – die dann auf dem vierten Album, "Remain in Light", dem Meisterwerk der Band, vollends unerhörte Früchte zeitigen sollten.

Gerade ist Lethems Buch im Tropen Verlag unter dem Titel "Talking Heads – Fear of Music - Ein Album anstelle meines Kopfes" auf Deutsch erschienen, Lethem gelingen hier wundersame Verschlingungen der Ansätze und Modi:

Talking Heads Fear of Music

Talking Heads

Braucht man eigentlich: "Fear of Music", das dritte Album der Talking Heads. Wie so ziemlich alles dieser großen, kaum zu überschätzenden Band.

"Ich spielte das dritte Album der Talking Heads namens "Fear of Music" so häufig ab, bis das Vinyl hinüber war, und kaufte mir dann ein neues Exemplar. Ich lernte die Texte auswendig, lernte die Texte anderer Talking-Heads-Platten auswendig und schaute mir die Talking Heads so oft wie möglich live an...in meiner schlimmsten Phase, 1980 oder 1981, war meine Identifikation derart vollkommen, dass ich mir vielleicht sogar wünschte, "Fear of Music" anstelle meines Kopfes zu tragen, damit mich die Menschen, um mich herum besser erkennen konnten."

Jonathan Lethem nähert sich "Fear of Music" hypersubjektiv. Als einem Souvenir aus seiner Jugend. Als Teil seiner Menschwerdung und Prägung. Er hat für das Buch beispielsweise keine Interviews mit den Bandmitgliedern geführt, sondern bietet stattdessen seine eigene Privatinterpretation der Platte an. Was kann ein Album für einen Menschen bedeuten?

Was aber nicht heißt, dass er sich bloß in nostalgischen Hirngespinsten und Teenagerromantik ergeht. Im Gegenteil, parallel zur Erinnerung an seine wunderbaren Jahre im New York der späten 70er ist Lethem hochgenau in der Analyse der Songs. In der Beleuchtung der Texte, der Sounds, der Produktion, den Macken und Ticks von Frontmann David Byrne:

Lethem Buch

Tropen

"Talking Heads - Fear of Music - Ein Album anstelle meines Kopfes" von Jonathan Lethem ist bei Tropen erschienen. Aus dem Amerikanischen von Johann Christoph Haass

"Dieser Kerl kommt aber bereits keuchend herein. Und ist dann den ganzen Song über damit beschäftigt, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. [...] Der Sänger machte angeblich Gymnastik, bevor er ans Mikrofon ging, und joggte dann weiter auf der Stelle, um ja zu verhindern, dass erbeim Singen wieder zu Puste kam."

Lethem beschreibt die Entwicklung der Talking Heads vom Format "Rockband" hinzu einer Art offenem Produktionskollektiv - inklusive Brian Eno. Wie die Gruppe immer mehr an der Zersetzung traditioneller Song-Strukturen arbeitete und Dystopie, Beklemmung und Angst in einer modernen, hässlichen Welt zu zentralen Themen der Platte wurden. Er spürt dem Nachhall von Dada in dieser weirden, großen, giftigen Platte nach, entwirft mit minutiöse gebaute Theorien und zeigt das Album"Fear of Music" gleichsam als Visionär wie als Symptom seiner Zeit.

Jonathan Lethen koppelt in diesem ziemlich fantastischen Buch so musikgeschichtlichen Detailreichtum mit der absoluten Fan-Perspektive. So kann man über Musik schreiben. Neben der allgemeingültigen Relevanz von "Fear of Music" erfahren wir so auch davon, wie sich das anfühlt, wenn eine Platte, die einem einst immens wichtig gewesen ist, langsam an persönlicher Bedeutung verliert. Eine aufreibende, glücksspendende Verschränkung von wissenschaftlicher Akribie und Emotion, die die Macht der Musik besingt. Und davon, wie sie verblassen kann.

"Und dann tat ich es eine Zeit lang nicht. Womöglich habe "Fear of Music" zehn Jahre lang nicht ein Mal gehört. In den Neunzigern schätzungsweise - vielleicht habe ich "Fear of Music" in den Neuniziger nicht ein einziges Mal aufgelegt. Wir sind Exfreunde, das Album und ich."