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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

13. 8. 2014 - 11:01

Zeichen und Wunder

„Die Karte meiner Träume“ und „Lucy“: Oder wie ich lernte Jean-Pierre Jeunet und Luc Besson einen Film lang zu lieben.

Auch wenn man sie sich langjährig und pingelig erarbeitet hat: In vorgefassten Meinungen stecken zu bleiben, ist generell keine gute Idee, erst recht in popkulturellen Belangen.

Natürlich braucht man ein akribisches persönliches Bewertungssystem von Filmen, Musik, Büchern und deren Schöpfern. Um nicht irgendwann beim ödesten aller Standpunkte, dem trostlosen „Ist ja alles nur Geschmackssache“, zu stranden. Und weil man definitiv nicht alles sehen, hören oder lesen kann, muss man sich klarerweise ein Referenzsystem erschaffen, das auch öfter auf vertrauenswürdigen Ansichten aus zweiter oder dritter Hand basiert.

In letzter Zeit scheint es mir aber immer wichtiger, einen solchen Turm der Vorurteile einfach einstürzen lassen zu können. Über Dekaden aufgebaute Positionen plötzlich in neuem Licht zu sehen. Erstarrte Gedankengebäude zu sprengen. Gelingt einem das, geschehen nämlich manchmal Zeichen und Wunder.

„The Young and Prodigious T.S. Spivet“ (Die Karte meiner Träume)

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„The Young and Prodigious T.S. Spivet“ (Die Karte meiner Träume)

Spezialist für putzige Schrulligkeit

So wie unlängst, als ich mit dem Ballast unzähliger schlechter Erinnerungen und einer sich fast körperlich manifestierenden Abneigung in den neuen Film von Jean-Pierre Jeunet spazierte. Ja, es gibt viele Menschen, die den französischen Regisseur als schrulligen Kinopoeten verehren. Auch Freunden von mir bedeuten „Delicatessen“, „La cité des enfants perdus“ und vor allem „Le fabuleux destin d'Amélie Poulain“ verdammt viel.

Aber mich konnte man genau mit der unerträglichen und verlogenen Putzigkeit dieses Films und generell dem verschnörkselten Manierismus von Jeunet immer jagen. Dass der Franzose irgendwann ausgerechnet meine heißgeliebte, schockierende, existentialistische „Alien“-Trilogie mit einem übertrieben comichaften vierten Teil verschandelte, nahm ich ihm besonders übel.

Und dann sitze ich in „The Young and Prodigious T.S. Spivet“, auf deutsch „Die Karte meiner Träume“ betitelt, und es passiert etwas. Der Film berührt mich. Nicht so tief, wie es wirklich großartige Werke tun. Aber dennoch. Eine Art von sanfter Melancholie erfasst mich, die mich als grimmigen Belächler der fabelhaften Amélie anfangs noch irritiert, aber schließlich überwältigt.

„The Young and Prodigious T.S. Spivet“ (Die Karte meiner Träume)

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„The Young and Prodigious T.S. Spivet“ (Die Karte meiner Träume)

The Weird Bunch

Dabei fängt alles ganz Jean-Pierre-Jeunet-typisch an. „Die Karte meiner Träume“ taucht in die Welt einer außerordentlich exzentrischen Familie ein, die in der idyllischen Einsamkeit von Montana wohnt. Mama erweist sich als verhuschte Insektenforscherin, der Papa kleidet und benimmt sich wie ein Cowboy aus dem Wildwest-Bilderbuch, die Tochter, die süchtig nach Schönheitswettbewerben ist, wirkt als einzige wie ein Wesen der Gegenwart.

Dann ist da noch der zehnjährige Tecumseh Sparrow Spivet, dessen verstorbenen Zwillingsbruder ein tragisches Geheimnis umgibt. Völlig unterschätzt von den Egozentrikern in seiner Familie lebt der Bub als heimliches Genie in der Abgeschiedenheit. Als T.S. einen berühmten naturwissenschaftlichen Preis gewinnt, verlässt er in den Morgenstunden die Ranch, um mit dem Zug quer durch Amerika, zur Preisverleihung, zu fahren.

Was die spinnerten Spivets anders macht als das bizarre Personal in früheren Filmen des Monsieur Jeunet? Vielleicht diktierte die Buchvorlage des amerikanischen Autors Reif Larsen den eigentümlich charmanten Tonfall, der mehr an die wehmütige Weirdness eines Wes Anderson erinnert als an französische Plastik-Skurrilität. Oder es ist die Präsenz toller Schauspielerinnen wie Judy Davis und Helena Bonham-Carter.

„The Young and Prodigious T.S. Spivet“ (Die Karte meiner Träume)

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„The Young and Prodigious T.S. Spivet“ (Die Karte meiner Träume)

Liebe und Tod im Fantasie-Westen

Möglicherweise verzauberte mich als ewiger Fan amerikanischer Mythen auch nur der prachtvolle Fantasie-Westen, den der Film auf die Leinwand bringt, in ungemein plastischen 3D-Bildern, mit denen diesbezüglich kaum ein Blockbuster konkurrieren kann.

“The Young and Prodigious T.S. Spivet” ist jedenfalls der erste Streifen Jean-Pierre Jeunets, der unter der barocken Oberfläche so etwas wie ein Herz und eine Seele hat. „Der Film sollte auch sehr emotionale Elemente enthalten, was in meinen Filmen sonst ja eher nicht vorkommt“ gesteht sogar der Regisseur im Gespräch mit dem Filmmagazin „Skip“.

Tatsächlich, es steckt viel Liebe in diesem Film, aber auch Tragik und Tod. Jean-Pierre Jeunet hat sich einen Moment lang aus der parodistischen, überartifiziellen Sackgasse katapultiert, in der etwa Tim Burton mittlerweile verloren scheint.

Das entschieden fundamentalere Kinoerlebnis in der letzten Zeit bescherte aber dann doch ein anderer Filmemacher aus Frankreich, zudem mein Verhältnis bisher zwar nicht feindselig, aber hochgradig ambivalent war: Luc Besson.

"Lucy"

UPI

"Lucy"

Bubblegum-Noir und Pseudo-Punk

Bereits in seinem Durchbruchsfilm „Subway“ anno 1984 kollidierte beim Pariser Großmeister des sinnentleerten Actionkitsch ein Gespür für Kinetik, Rasanz und knallige Farbgebung mit einem totalem Vakuum in Sachen Credibility und Intelligenz. Luc Bessons Universum, das machten später auch Arbeiten wie „Nikita“ und „The Fifth Element“ klar, beruhte auf kommerziell durchaus produktiven, aber peinlichen Missverständnissen.

Der mittlerweile 55-jährige Regisseur und Produzent schien weder als junger Mann die Strenge der New-Wave-Kultur verstanden zu haben, mit der seine Filme visuell hausieren gingen. Noch kapierte er tatsächlich die Radikalität mancher amerikanischer Thriller-Vorbilder. Sein Bubblegum-Noir-Style wirkte wie ein französischer Charts-Schlager aus den 80ern, bei dem die freche Punk-Produktion das Nichts dahinter kaschieren muss.

Genug geschimpft, es gibt sie, die gloriosen Augenblicke auch in grenzwärtigen Besson-Filmen, wenn das grelle Blau überhand nimmt und in der Nacht nur mehr stählern schimmernde Waffen und grelle Frisuren sichtbar sind. Und dann ist da noch „Léon". Müsste ich das Schaffen des Franzosen auf einen Favoriten runterbrechen, bleibt von seinen Regiearbeiten einzig diese zwischen Poesiealbum-Unschuld und Blutbad pendelnde Killerballade übrig. Bis jetzt.

Denn dieser Tage nähert sich „Lucy“ den Kinos mit federnden Schritten und brachialer Urgewalt: Eine Frau und ein gleichnamiger Film, der meine Einstellung zu Luc Besson ebenso pulversierte wie er gewisse Erwartungshaltungen auf den Kopf stellte. Mit diesem irrlichternden Mix aus unzähligen Genres, Randbereichen der Gehirnforschung und hyperbeschleunigtem Körperkino konnte man einfach nicht rechnen.

"Lucy"

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"Lucy"

Wahnwitzige filmische Erfahrung

Scarlett Johannsen, die sich mit „Lucy“ endgültig als zentrale Darstellerin des heurigen Filmjahres erweist, ständig am Sprung zwischen Mainstream und Underground, besticht in der Titelrolle. Als naive Touristin gerät sie in Taiwan in einen Drogendeal und bekommt vom Oberboss (grandios: „Oldboy“ Min-sik Choi) und seinen Schergen eine zunächst mysteriöse Substanz unter die Bauchoberfläche genäht.

Der leuchtend blaue Stoff, der in Lucys Blutkreislauf sickert, lässt die junge Frau mutieren, erweitert ihre Gehirnkapazität im Blitztempo. Und mir ihr und ihren Fähigkeiten transformiert auch der Film: Vom erwartungsgemäßen Actioninferno und Superheldinnen-Kinozu einer wahnwitzigen filmischen Erfahrung, die populäre grenzwissenschaftliche Youtube-Clips ebenso auf dem Weg mitnimmt wie Stanley Kubrick und Terrence Malick.

Luc Besson sind anscheinend mittlerweile einige Sicherungen durchgebrannt. Und das macht seinen persönlichsten, wagemutigsten Film auch zu seinem Besten. Manchmal kommen die Zeichen und Wunder aus den unerwartesten Ecken.

"Lucy"

UPI

"Lucy"