Erstellt am: 12. 8. 2014 - 11:57 Uhr
Mit Erdogan unter die Regenbogenflagge
von Hakan Tanriverdi und Sammy Khamis
Melih, Ali und Ibrahim führen uns in eine Bar in Istanbuls Ausgehviertel Beyoğlu. Sie witzeln herum, halten ab und zu kurz Händchen und werden doch noch einmal sehr ernst: „Ich habe kein Problem mit Öffentlichkeit“, meint Melih, „aber bei den anderen beiden ist das nicht so.“ Kein Problem. Wer anonym bleiben will, wird nicht gezeigt. Ihre Vornamen geben sie uns. Und einen Handschlag. Dann gehen wir in die Bar.
Von der Decke hängen Regenbogenflaggen, auf den Toilettentüren steht zweimal „Herren“. Es ist eine der zahlreichen Schwulenbars im Viertel. Hier können die drei ungezwungen sprechen. In einem Straßencafé wäre das nicht möglich, so Melih. Denn die drei sind schwul – und Mitglieder der LGBT-Gruppe (Lesbian, Gay, Bi, Transgender) der AK-Partei. Beides für sich genommen nichts besonderes, in der Kombination aber sehr außergewöhnlich. Sie sind schwul, Muslime und supporten Erdogan – und im Café bestellen sie Wasser. Kein Bier.
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Eine Million und die Regenbogenflagge
Ihren ersten großen und öffentlichkeitswirksamen Auftritt hatte die LGBT Gruppe der AKP Anfang August, auf einer Wahlveranstaltung Erdoğans. Eine Million Menschen sollen dabeigewesen sein. Für Melih, Ali und Ibrahim war ihr Auftauchen bei der Veranstaltung ein Erfolg – wenn auch mit Abstrichen. „Die Zeitung Taraf hat ungefragt Fotos von unserem Twitteraccount veröffentlicht und so Leute unfreiwillig geouted. Sie leben jetzt potentiell in Gefahr“, meint Melih. Aber neben der negativen Medienaufmerksamkeit war die Veranstaltung vor allem für Ali ein Erfolg. „Unsere erste Aktion hatten wir, als die Hochgeschwindigkeitsstrecke der Bahn eingeweiht wurde. Da haben wir mit einer Flagge geweht und es gab keine, nicht mal negative Reaktion darauf“, so Ali. „Aber bei der großen Wahlveranstaltung hatten wir gleich zwei Regenbogenfahnen an verschiedenen Orten, einmal vorne und einmal hinten. Das war keine normale Flagge, die war so groß wie 13 oder 15 Fahnen.“ Und es war vor allem die Reaktion Erdoğans, die Ali so erstaunt hat – und ihn bis heute strahlen lässt. „Auf einem Foto sieht man Erdogan, wie er in Richtung der Flagge schaut. Vielleicht war das sogar eine Art Unterstützung. Er hätte auch sagen können: Was soll die Flagge hier? Die hat hier nichts verloren! Aber das hat er nicht getan. Erdogan weiß, wofür die Regenbogenflagge steht. Für mich bedeutet das: Er toleriert uns.“
Für Melih ist Erdogan ein Mann, der sich für die Belange von unterdrückten Gruppen einsetzt. Er nennt die sogenannte Kopftuchfrage als Beispiel: „Heute dürfen Frauen überall das Kopftuch tragen. Zehn Jahre hat die AKP dafür gekämpft. Vielleicht wird die Partei genauso lange brauchen, bis alle Forderungen der schwul-lesbischen Community umgesetzt hat. Aber wir arbeiten daran.“
Das Kopftuch passt in den konservativen Lebensentwurf Erdoğans, klar. Aber Homosexualität? „Der Islam fordert nicht dazu auf, uns zu schlagen, kaputtzumachen oder uns zu erhängen“, antwortet Melih ruhig. „Die Osmanische Kultur ist viel offener gegenüber Schwulen, als das beispielsweise in Russland der Fall ist.“ Gute Antwort, aber auch Ibrahim, der bis dahin als schweigender Dritter am Tisch saß muss der Aussage noch etwas hinzufügen. „Wir sind wie ein Stück Lokum [türkische Süßspeise] in der Speiseröhre. Wir befinden uns langsam auf dem Weg in Richtung Magen. Dort werden wir ganz natürlich zersetzt werden und aufgehen im Rest der Bevölkerung.“
Seit Gezi-Park kennt in der Türkei jeder die Regenbogen-Flagge. Die LGBT Community in Istanbul war bei den Demonstrationen gegen den Umbau des Parkes ebenso aktiv, wie in den Kämpfen gegen die Polizei. Bei der Gay-Pride 2014 zogen rund 100 000 Menschen durch Istanbuls Einkaufsstraße Istiklal. Selbst Fußball-Ultras sollen aufgehört haben „Schwuchtel“ als Schimpfwort zu benutzen. Die LGBT Szene in der Türkei – sie ist mutig und sichtbar. Trotzdem ist Melih der einzige innerhalb der AKP-Gruppe, der offen schwul ist. „Mein Freund Melih neben mir ist offen schwul und er zeigt sich vor Kameras. Er ist eben ein mutiger Kerl und ich feier das“, so Ali. „Aber anonym zu bleiben, heißt nicht, dass wir nicht mutig sind. Wir machen Aktionen, und sie hätten uns komplett verprügeln können. Wir haben unsere Angst besiegt und sind trotzdem hingegangen.“
Adrian Campean
Aber die Öffentlichkeit ist eben doch etwas anderes, als das Privatleben. Selbst Melih kennt den Ausdruck „coming out“ nicht. Seine Eltern wüssten zwar, dass er schwul ist „sie wissen es aber auch wieder nicht. Sie fragen einfach nicht mehr nach.“
Ihre Arbeit innerhalb der AKP ist schwierig. „Die Türkei ist ein muslimisches Land. Eine gleichgeschlechtliche Ehe wird es nicht geben“, ist Melih überzeugt. Aber sie arbeiten an anderen Rechten: „Wir wollen Leben, Arbeiten und wir wollen uns treffen dürfen. In der Öffentlichkeit und als offen schwule Menschen. Wenn wir das erreicht haben, dann folgen die anderen Rechte. Das braucht Zeit. Aber ein Recht auf Leben, ein Recht auf Arbeit und Wohnen - offen schwul natürlich. Das wird Türen öffnen.
Türen, an denen andere LGBT Gruppen bereits seit Jahrzehnten rütteln. Die Gruppe Lambda arbeitet seit 20 Jahren daran LGBT Rechte umzusetzen. Darüber hinaus bieten sie Beratungen und Workshops an. Lambda, wie die gesamte LGBT-Szene ist in der Regel links, zumindest aber gegen die konservativ muslimische Regierung unter der AKP. Das erleichtert die Zusammenarbeit mit Melih, Ali und Ibrahim nicht gerade, „aber wir kämpfen für die gleiche Sache“, so Melih.
Deshalb wenden sich die drei eher an die AKP selbst. Dort reden sie mit Untergruppen und geben sich offen als LGBT-AK zu erkennen. Es gibt zwei Leitlinien, die sie stützen, und beide kommen aus dem Islam: Im Islam gilt der Grundsatz jeden Menschen zu lieben, allein deswegen, weil Allah in geschaffen hat. Und zweitens: „Jeder ist für seine Sünden selbst verantwortlich“, so Ali.