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Irmi Wutscher

Gesellschaftspolitik und Gleichstellung. All Genders welcome.

11. 8. 2014 - 14:52

"Luftbrücke ist Tropfen auf den heißen Stein"

Zehntausende Menschen sitzen auf einem Bergrücken im Nordirak fest, auf der Flucht vor der IS. Ein Gespräch mit Grünen-Politiker Michel Reimon, der gestern bei den Flüchtlingen vor Ort war.

Furchtbare Szenen spielen sich derzeit im Nordirak ab: Die Islamisten von der IS (Islamischer Staat) machen dort Jagd auf Mitglieder der religiösen Minderheit der Jesiden. Mehrere Hundert sollen sie schon ermordet oder versklavt haben, dutzende Dörfer haben sie eingekesselt und wollen die BewohnerInnen mit Morddrohungen zum Übertritt zum Islam zwingen.

Jesiden auf der Flucht

APA/EPA/Mohammed Jalil

Mindestens 20.000 Jesiden konnten gestern mit Hilfe von kurdischen Kämpfern entkommen und nach Erbil fliehen, einer Stadt im autonomen Kurdengebiet. Noch immer sitzen aber zehntausende Jesiden im Sinjar-Gebirge nahe der Grenze zu Syrien ohne Wasser und Lebensmittel fest. Gestern haben US-Flugzeuge dort erneut Wasser und Nahrungsmittel abgeworfen.

Ich habe mit Michel Reimon - Euopaparlamentarier der Grünen - gesprochen. Er ist seit Donnerstag in Erbil im Nordirak, um sich ein Bild von der Lage zu machen.

Sie konnten gestern mitfliegen bei der Luftbrücke ins Sinjar-Gebirge - wie war das?

Michel Reimon: Die Luftbrücke ist der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Es sitzen zehntausende Menschen - genaue Zahlen sind nicht mehr zu bekommen - auf einem Bergrücken fest, auf dem es fast keinen Schatten gibt und Temperaturen von 45 Grad. Die Menschen verdursten, wenn ihnen das Wasser ausgeht. Sie sind umzingelt von IS-Truppen. Vor ein paar Tagen gab es einen Korridor, über den man hinausgelangen konnte. Das haben einige Tausend geschafft. Inzwischen ist dieser Korridor aber wieder geschlossen. Das heißt, sie sind vollkommen eingekreist und nur mehr mit dem Hubschrauber zu versorgen. Ich bin gestern bei dieser Luftbrücke mitgeflogen: Man muss über die IS-Stellungen drüber, dann wird Wasser abgeworfen, man versucht kurz zu landen und einige Leute einzuladen. Mit vier Hubschraubern bringt man ungefähr eine LKW-Ladung Wasser in Flaschen auf den Berg und kann ca. hundert Leute mitnehmen. Es war geplant, dass die Luftbrücke den ganzen Tag fliegt, daraus wurde nichts, weil der LKW mit dem Kerosinnachschub nicht durchgekommen ist und die Hubschrauber mussten am Boden bleiben. Es war eine absolute Tragödie! Wir hatten Wasser und konnten es nicht mehr auf den Berg liefern!

Gibt es eine Aussicht, dass man die Leute in absehbarer Zeit da rausholen kann?

Es gibt großflächig Kämpfe auf einer Länge von mehreren Tausend Kilometern zwischen kurdischen und irakischen Truppen auf der einen Seite und den Truppen des islamischen Staates auf der anderen. Natürlich sagen alle Politiker hier, auch alle Militärs, wir müssen irgendwie zu diesen Bergen durchbrechen und versuchen, diese Leute dort rauszuholen. Die Zehntausenden kann man nur auf dem Landweg retten, das ist mit Hubschraubern nicht möglich.

Die USA haben ja am Wochenende Luftangriffe geflogen. Wie sehen das die Menschen vor Ort? Ist man froh über das Eingreifen der USA oder dagegen?

Die Menschen hier sind uneingeschränkt froh über die Luftangriffe der Amerikaner. Die sehen in den IS-Fundamentalisten die größte Bedrohung sei Jahrzehnten. Sie haben Angst um ihr Leben und wollen, dass die gestoppt werden, mit welchen Mitteln auch immer. Die militärische Überlegenheit der IS beruht ja darauf, dass sie amerikanische Waffen erbeutet haben. Sechs Divisionen der irakischen Armee haben desertiert und ihre Waffen liegengelassen. Die IS-Truppen haben sich die Waffen genommen und sind damit z.B. den Kurden haushoch überlegen. Die amerikanischen Luftangriffe zerstören somit amerikanische Waffen und das wird von den Kurden, soweit ich das hier mitbekomme, uneingeschränkt begrüßt und herbeigewünscht.

Auf dem Boden kämpfen derzeit nur die Kurden gegen die IS?

Nein, mittlerweile kämpft die irakische Armee mit den Kurden gemeinsam. Vor drei Tagen war die Stimmung unter kurdischen PolitikerInnen und Militärs sehr positiv, dass sich jetzt das Blatt wenden wird. Nach drei Tagen Beobachtung muss man sagen: Es geht hin und her und es ist nicht eindeutig zu erkennen, dass es sich gewendet hätte. Trotzdem sagen die Kurden, dass sie diesen Konflikt gewinnen werden, weil sie den Fundamentalisten zahlenmäßig deutlich überlegen sind und weil diese keinen Rückhalt in der Bevölkerung haben.

Wie schätzen Sie diese IS ein, die im Gegensatz zu Al Kaida wie eine Armee auftritt und sich dann doch großer Beliebtheit unter der diasporischen Jugend auf der ganzen Welt erfreut?

Das ist eindeutig eine Terrororganisation, die eine neue Strategie gewählt hat und nicht mit einzelnen Anschlägen versucht, Angst und Schrecken zu verbreiten, sondern wie eine Armee auftritt. Aber alle Maßnahmen, die sie setzen, sind Terror, Mord, Vergewaltigung. Also das ist mir unverständlich, wie irgendjemand auf die Idee kommen könnte, dass das in irgendeiner Form mit einer regulären Armee zu vergleichen ist.