Erstellt am: 8. 8. 2014 - 13:53 Uhr
Flimmern: Vom Ende der Fabeln
Es wäre auf manchen Ebenen eine Untertreibung, zu sagen, Studio Ghibli ist das japanische Äquivalent zu Walt Disney. Auf der Ebene von Bekanntheit und kultureller Relevanz sitzt der Vergleich zwar, aber die Charaktere, die Studio Ghibli hervorgebracht hat, sind komplexer und poetischer, als die Disney-Geschöpfe, die manchmal wirken als hätte sie ein mit Family Values gespeister Algorithmus hervorgebracht.
Klar auch hier gibt es Ausnahmen, Dory der "Wale" sprechende, queere Fisch aus Finding Nemo der Weiblichkeit und Mütterlichkeit transzendiert und J. Jack Halberstam in ihrem Buch Gaga Feminism beschäftigt zum Beispiel, oder Wall-E, der die tote Erde aufräumt und sich in einen digitalen Geist verliebt.
Aber in der Regel sind die Studio Ghibli Figuren in anderen und komplexeren Ebenen verhaftet als die des Disney-Konzerns. Es gibt Perspektiven auf Geschichte, Kolonialismus, Krieg, Naturzerstörung, nicht-gesellschaftskonforme Lebensentwürfe, die in ihrer Konsequenz und Tiefe ihresgleichen in der animierten Welt suchen.
studio ghibli
Filme wie Prinzessin Mononoke, Mein Nachbar Totoro, Das Wandelnde Schloss und Chihiros Reise ins Zauberland lösen angeblich kindergerechte Gut-Böse-Schemen auf und erwachsene Menschen sitzen ebenso gebannt vor den opulenten Welten wie die Unter-Zehn-Fraktion, die - wie ich glaube - durchaus in der Lage ist, moralische Ambivalenz zu verstehen.
All dies Fan-Girl-Schwelgen gibt es hier, weil letzte Woche wie ein Stein, direkt geschleudert aus der Hölle, die furchtbare Meldung auf meinen Kopf fiel: Studio Ghibli schließt. Der letzte Film "Wie der Wind sich hebt" konnte die Produktionskosten nicht mehr einspielen und deshalb ist es jetzt vorbei.
So etwas Großartiges wie Studio Ghibli darf nicht der Lukrativität geopfert werden. Ich will nicht in einer Welt Leben, wo die überraschendsten und phantastischen Filme nicht gemacht werden und man frustriert vor einem Kinoprogramm sitzt, das mit vorhersehbaren Hollywood-Algorithmus-Drehbuch-Dreck zugestopft ist.
Ein paar Stunden später gab es eine halbe Entwarnung. Das Ende, die Schließung, ist ein Übersetzungsfehler. Definitiv ist, dass es vorerst keine neuen Produktionen gibt. Studio Ghibli legt eine Ruhephase zur Neuorientierung ein. Beunruhigend, aber nicht desaströs, würde ich das nennen. Der Welt würden die die Fabeln von Studio Ghibli fehlen.
Eine Fabel ist eine Erzählung, in deren Rahmen meist Tiere menschliche Eigenschaften übernehmen und uns Fehler oder Stärken vor Augen führen sollen, uns moralisches Handeln näher bringen. Äsop ist der Begründer des "Genres". Er lebte 600 v. Chr, war griechischer Sklave, mehr weiß man nicht über ihn. Nur, dass er ein Mann des Volkes war, kein Agent der Macht, der Lehrstücke zur Beherrschung des Pöbels produzierte. Das wird aufgrund der Art seines Werkes angenommen.
Äsop setzt auf Intelligenz, Humor und Überraschung anstatt auf Autorität und Gottesfurcht. Die Ameise und die Heuschrecke, der Löwe und die Maus, das sind nur zwei der vielen bis heute erzählten und variierten Fabeln von Äsop. An einer australischen Universität wurde letzte Woche ein Algorithmus vorgestellt der auf Basis von Äsops Fabeln Moral für Menschen produziert. Man speist das Programm mit Begriffen und es wirft Tiergeschichten aus, die humanoiden als moralische Lehrstücke zu Neid, Rache, Gier und Ähnlichem dienen sollen. Mathematik und Moral, das ist ein schwieriges Thema, zu dem ich lieber die Expertise von Totoro als die von Wall-E hätte.