Erstellt am: 9. 8. 2014 - 09:13 Uhr
Ein Verlierer, zwei Gewinner
Die Türkei scheint nie aus der Wahlkampfatmosphäre rauszukommen. Nach den ordentlich aufgeheizten Kommunalwahlen geben am Sonntag die Präsidentschaftswahlen ihr Debüt.
Der Gegenkandidat aus dem Nichts
Das Interesse an dieser Wahl ist groß, doch die Stimmung ist diesmal entspannter, aber auch pessimistischer. Der Grund: der Gegenkandidat, den die laizistisch-nationalistische CHP und die ultra-nationalistische MHP gemeinsam mit anderen elf hauptsächlich rechten Parteien aufgestellt haben, macht den AKP-Gegnern wenig Hoffnung.

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Die Ernennung des Ekmelettin İhsanoğlu als Gegenkandidat kam für die meisten überraschend. Etwas zu überraschend, denn wer das überhaupt sein soll, wussten eigentlich nur die wenigsten. İhsanoğlu ist ehemaliger Wissenschafter und war Vorsitzender der Organisation für Islamische Zusammenarbeit. Die Taktik der Opposition war klar: İhsanoğlu sollte die AKP-Basis ansprechen und gleichzeitig die Kemalisten und Nationalisten vertreten. Doch viel mehr Gedanken hatte man sich bei der Opposition über die Wahlkampfstrategie nicht gemacht. Der Wahlkampf begann dann auch mit einer bizarren Pressekonferenz bei der İhsanoğlus Slogan vorgestellt wurde: "Ekmel für Brot."
Der Chefredakteur der türkischen Tageszeitung "Hürriyet" ist einen Tag vor der Präsidentschaftswahl überraschend zurückgetreten. Die Mediengruppe Dogan, die die reichweitenstarke Zeitung herausgibt, war zuvor von dem Spitzenkandidaten der AKP, Regierungschef Recep Tayyip Erdogan, heftig kritisiert worden. Erdogan warf ihr Islamfeindlichkeit vor.
Der Verlierer
Der Slogan wurde sofort zum Gag und verstörte die AKP-Gegner. Plötzlich wirkte İhsanoğlu wie ein zeitreisender Politiker, der aus den 1960ern ins 21. Jahrhundert geworfen wurde. Auch nach der Pressekonferenz kam der Wahlkampf nicht wirklich in Fahrt. Die AKP-Wähler schreckte er mit seinen Loyalitätsbekundungen gegenüber Atatürk ab, die Kurden hingegen, für dessen Rechte er eintreten möchte, mit türkisch-nationalistischen Sagern. Und die laizistischen Kemalisten, die als seine stärksten Unterstützer gelten, konnten sich mit ihrem Kandidaten, der als Sohn eines islamischen Geistlichen in Kairo auf die Welt kam, nicht wirklich anfreunden.
Gerüchten zufolge hatte die CHP-Spitze absichtlich auf einen schwachen Kandidaten wie İhsanoglu gesetzt. Denn ein Kandidat, der nur knapp das Rennen verlieren würde, hätte sich nach den Wahlen an die Parteispitze setzen können.

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Der Gewinner
Viel interessanter ist der zweite junge Gegenkandidat Selahattin Demirtaş, der mit Charisma und rhetorischen Fähigkeiten ideale Voraussetzungen als gemeinsamer Gegenkandidat hat, aber im Grunde aus einem einzigen Grund doch allein antritt: als Kurde ist er für die kemalistisch-nationalistische Mehrheit der Opposition unwählbar.
Dennoch oder gerade deswegen erklärte er sich und seine Bewegung bereits zum Gewinner der Wahl. Dass er überhaupt kandidieren kann, ist ein Erfolg und zeigt, welchen Weg die kurdische Politik in der Türkei zurückgelegt hat.
Das ist nicht nur ein Gewinn für die HDP, sondern für die gesamte Türkei. Vor allem, wenn die HDP es in der Zukunft schafft, nicht nur die Kurden anzusprechen, sondern auch eine echte sozial-demokratische Alternative zur AKP aufzubauen, die in allen Bevölkerungsschichten Zuspruch findet.
Die Zukunft
Der große Gewinner am 10. August wird aber wohl wieder der jetzige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan sein, dem die meisten Umfragen einen Sieg in der ersten Runde voraussagen.

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Viel interessanter ist deshalb die Frage, wer ihm als Ministerpräsident folgen wird und ob die AKP mit einer neuen Spitze weiterhin dicht hinter Erdogan bleibt. Eins ist aber auf jeden Fall jetzt schon klar: Egal wie die Wahl ausgeht, sie wird das politische System der Türkei massiv verändern.
Ein Präsident, der direkt vom Volk gewählt wird, wird mehr Einfluss auf die Regierung haben und mit einer Verfassungsänderung könnten die Kompetenzen sogar noch ausgeweitet werden. Gleichzeitig könnte diese Wahl auch den endgültigen Verfall der laizistisch-kemalistischen Opposition und den Aufstieg einer sozial-demokratischen Gegenbewegung markieren.
Dazu muss allerdings ein radikaler Wandel im oppositionellen Mainstream stattfinden. Und auch für die Regierung wird diese Wahl einen Prozess einleiten, in der sie ihr Reformtempo erhöhen muss, denn in der Türkei ist nach dem Wahlkampf vor dem Wahlkampf.