Erstellt am: 6. 8. 2014 - 13:03 Uhr
Ein Albtraum
Mit Akzent
Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharovs. Jeden Mittwoch in FM4 Connected (15-19h) und als Podcast.
"Die Leiden des jungen Todor"
Das Buch mit den gesammelten Kolumnen gibt es ab sofort im FM4 Shop.
Draußen ist Sommer. Ich gehe langsam und sicher, bis ich plötzlich bemerke, dass mich alle auf der Straße anstarren. Dann stelle ich fest, dass ich nackt bin. Ich bin aus der Wohnung gegangen, ohne mich anzuziehen. Ich versuche, mich zu bedecken, aber es klappt nicht und renne zurück zur Wohnungstür. Alle Passanten starren mich an. Ich schäme mich so, dass ich nichts sagen kann. Plötzlich hat es mit die Sprache verschlagen. Ich erreiche die Haustür und begreife, dass ich nicht nach Hause kann. Ich bin nackt und habe keine Wohnungsschlüssel mit. Ich bin verloren. Ich setze mich auf die Treppe vor der Tür und verberge mein Gesicht in meinen Händen. Plötzlich fange ich an zu weinen. Wie ein Baby. Genau wie ein Baby, denn ich weine nicht mit meiner eigenen Stimme, sondern mit einer Babystimme. Ab und zu schaue ich hoch und sehe wie mich die Passanten neugierig betrachten.
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An diesem Punkt wache ich immer schweißgebadet auf. Ich habe keine Ahnung, was Freud über diesen Traum zu sagen hätte. In dem Moment interessiert mich Freud überhaupt nicht. Ich freue mich, dass ich im Bett liege und nicht nackt und weinend vor der Wohnungstür sitze. Meine liebe M. schläft ruhig neben mit, kein Ahnung von meinen Träumen.
Vor einigen Wochen gingen M. und ich Brot und Kichererbsen zu kaufen. Kurz nachdem wir raus aus der Wohnung waren, bemerkten wir, dass wir unsere Schlüssel und Handys vergessen hatten. Wir nahmen es gelassen. Schließlich waren wir nicht nackt und wir haben Mitbewohner, die bald zu Hause sein würden. Es war fünf Uhr Nachmittags und die Sonne leuchtete am Himmel. Es gab keinen Grund zur Sorge. Wir entschieden, dass es am besten sei, in irgendeine Bücherei zu gehen. Ich entspanne mich immer, wenn ich Bücher durchstöbere. Wir sahen uns Bildbände von verschiedenen Künstlern und Ausstellungen durch und diskutierten die Entwicklung der modernen Kunst. Nach einiger Zeit musste die Buchhandlung zusperren. Auf dem Weg nach Hause erzählte ich M. von meinem seltsamen Albtraum. Wie lachten darüber. Wir waren uns sicher, dass unsere Mitbewohner schon zu Hause sind und das weiche türkische Brot und die Dose mit Kichererbsen gaben uns Hoffnung, dass wir nicht verhungern werden.
Niemand war zu Hause. Die Fenster unserer Wohnung waren dunkel. Die Sonne war schon längst untergegangen. M. geriet in Panik. Was ist, wenn die Mitbewohner nie nach Hause kommen? Was ist, wenn sie schon da waren und wieder rausgegangen sind, um irgendwo die Nacht durchzufeiern? Wir hatten schon alle Themen über die moderne Kunst abgehandelt und sahen uns feindselig an. Jeder beschuldigte den Andren, dass er seine Schlüssel und sein Handy Zuhause vergessen hatte.
Wir machten uns auf dem Weg zu meinem Freund Niki, der in der Nähe wohnt. Niki wird uns helfen. Niki war nicht zu Hause. Die Fenster von seiner Wohnung waren auch erbarmungslos dunkel.
Wir gingen wieder zu unserer Wohnung. Es war schon tief in der Nacht. Die Mitbewohner waren immer noch nicht da. Wir öffneten die Kichererbsendose und fingen an, mit den Händen zu essen. Wir hatten uns schon damit abgefunden, dass wir draußen auf einer Parkbank schlafen müssten. Es war kalt. M. fing zu weinen an. Ich umarmte sie mit meinen Händen, die ganz fettig von den Kichererbsen geworden waren.
Wir saßen auf derselben Schwelle, von der ich immer träume, dass ich nackt darauf sitze und wie ein Baby heule. Dieses Mal weinte ich aber nicht, sondern versuchte M. zu beruhigen.
Ein bisschen später kamen die Mitbewohner. Ich hielt meinen Finger vor den Mund, damit sie nicht so laut redeten. M. schlief ruhig in meinem Schoß. Sie lächelte im Schlaf.