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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

5. 8. 2014 - 16:33

The daily Blumenau. Tuesday Edition, 05-08-14.

Ist die medial jetzt groß wahrgenommene Radikalisierung der islamischen Jugend in Österreich zufällig und plötzlich entstanden?

The daily blumenau hat seit Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst.
Mit Items aus diesen Themenfeldern. Im August wegen Väterteilzeit und Urlaubstagen leider höchst unregelmäßig.

Ich darf die Diskussion der letzten Wochen so zusammenfassen: Wir (also Österreich) haben ein Problem mit aus dem Nichts auftauchenden radikalisierten jungen Muslimen. Zuerst ziehen 15jährige Mädchen in den heiligen Krieg nach Syrien, dann kommen bei Demonstrationen offen antisemitische Parolen (auch von ganzen Familien), Burschen stürmen Fußballplätze und die Verantwortlichen dahinter inszenieren Shitstorms gegen Moderatorinnen, die sie mit kritischen Fragen konfrontieren. Die autochtone Öffentlichkeit schlägt entsetzt die Hände überm Kopf zusammen, fragt sich wie das passieren konnte und wohin das noch führen wird und geriert sich wie ein unverschuldet ins Gewitter Geratener.

Davon kann aber keine Rede sein. Weder ist der Auslöser ein Zufall noch die tiefere Ursache unverhinderbar gewesen.

Nicht dass es (selbst im Mainstream) keine brauchbaren Versuche geben würde, die Situation zu erklären. Was allerdings meist fehlt, ist der Hinweis auf Grundlegendes: zum einen auf den aktuellen Auslöser und zum anderen auf die befeuernden Hintergründe - also auf Grund und Ursache.

Die großflächige über Mitteleuropa gestreute Erregung über den Nahost-Konflikt (die auch schon vor dessen aktueller Eskalation gegeben war) hat einen ganz simplen machtpolitischen Grund: die Präsidentschaftswahlen am Sonntag. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan setzt alles daran aus dieser erstmaligen Wahl (bisher wurde der Präsident wie in Deutschland vom Parlament bestimmt) als Sieger hervorzugehen. Gewinnt Erdoğan, dann steht der Türkei eine drastische Veränderung des politischen Systems bevor, bis hin zu einem mit Russland vergleichbaren autoritären System ist dann alles möglich.

Es geht also um viel für Erdoğan, und weil auch die vielen Auslandstürken wahlberechtigt sind, sind auch Deutschland und Österreich Wahlkampf-Battleground. Österreich ist klassisches Erdoğan-Gebiet - die ehemaligen Gastarbeiter stammen überwiegend aus den ländlichen Provinzen, die seit jeher AKP-nahe sind. Und in seinen exzellent choreografierten Auftritten (auch dem in Wien) gibt Erdoğan seinen Anhängern was sie wollen: starke nationalistische Sprüche, Identifikation und viel Balsam auf das Gefühl, in Europa als gesellschaftlich zutiefst rückständig, kultur- und bildungsfern angesehen zu werden.

Das funktioniert traditionell am Besten mit einem Sündenbock, der an allem schuld ist. Aktuell ist das Israel. Also wecken Erdoğan und die österreichische Dependance seiner Union Europäisch-Türkischer Demokraten den in der türkischen Community unterschwellig latent vorhandenen Antisemitismus, mischen Anti-Kriegs-Rhetorik (um so auch die linken Gruppen einzubinden), Panislamismus und klassischen Antizionismus zu einem extrem undifferenzierten und deshalb auch sehr gefährlichen Gebräu. Erdoğan ist der Held, der seinem Publikum das gute alte das wird man doch noch sagen dürfen aus dem Mund nimmt.

Ich will nicht behaupten, dass die antisemitische, autoritätshörige und panislamische Welle, die Österreich in den letzten Wochen durchströmt hat, sich nach den Wahlen wieder völlig zurückziehen und verebben wird. Es wird nur so sein, dass Erdoğan nach seinem Wahlsieg und dem dann zu erwartenden Umbau der Türkei keinen Fokus mehr auf Zentral-Europa legen wird - seine Propaganda wird sich auf aggressive Rechtfertigung des neuen Stils konzentrieren.

Die für Österreich nach der Wahl am Sonntag viel wesentlichere Problematik als das reißerisch aufgeblasene Jungtürken-Gewalt-Thema liegt im viel zu lange vernachlässigten, abgestrittenen, ja bewusst geleugneten Spiegel-Effekt.

Die antidemokratische Grundtendenz, die von den Freunden eines autoritären Regimes offen gelebt und über die jüngsten Proteste sublim gestreut wird, kommt zwar aus einer anderen (auch demokratiearmen) Tradition, findet aber in der (nur um ein paar wenige Praxis-Jährchen - 78 zu 84 - längeren) österreichischen Tradition des Unterlaufens demokratischer Strukturen ihre Entsprechung. Soll heißen: Natürlich trauen sich Antidemokraten in einer nur verhalten agierenden Oberflächen-Demokratie wie Österreich mehr und werden entsprechend lauter.
In Deutschland, wo es - im Gegensatz zu Österreich - a) ein funktionierendes Bürgertum, b) eine diskursfähige Zivilgesellschaft und c) eine funktionierende Qualitätsmedienlandschaft gibt, lässt sich die Gesellschaft nicht so schnell in Geiselhaft nehmen und setzt klare Gegenpole. In Österreich, das zuletzt den Eindruck hinterließ von ein paar Großkonzernen über den Kopf seiner Regierung hin mitverwaltet und von einer FPÖ-gesteuerten Polizei regiert zu werden, ist die Hemmschwelle vergleichsweise ungarischer.

Und da kommt auch der bereits oben angesprochene andere Unterschied zwischen Österreich und anderen europäischen Ländern, die ab den 60ern eine Gastarbeiter-Politik betrieben haben, zum Tragen: die Immigrations-, die Integrations- und die Asylpolitik Österreichs war immer darauf ausgerichtet, möglichst niemanden ins Land zu lassen, der den Einheimischen "die Arbeitsplätze wegnimmt" - weshalb dann wieder nur die bildungs- und kulturfernen Schichten egal welchen Landes im Schnitzelland pickenblieben, während sich Menschen, die auch im Gastland zur Mitarbeit in einer Zivilgesellschaft bereit sind, schnell anderswohin absetzten. Wo Tauben sind, fliegen Tauben zu. Wo Obrigkeitshörigkeit die oberste Tugend ist, bleiben Obrigkeitshörige. Ausnahmen bestätigen die Regel, sind aber rar, allzu rar.

Unter anderem auch deshalb schillert etwa Nachbar Deutschland vor lauter Sympathie-Trägern und Role Models seiner jungen Bürger mit Migrationshintergrund, während man sich in Österreich mühen muss um beim Durchzählen die Finger einer Hand ausfahren zu können. Unter anderem deswegen kann auch keine (Migrations-Hintergrunds-)Stimme der Vernunft sich erheben.

Dieser Spiegel-Effekt fällt uns also jetzt auf den Kopf. Warum sollten aber auch in einem Land der Gabaliers ausgerechnet die Zugewanderten, also die, die sich nur an der gelebten Praxis orientieren können und mit Sonntagsreden nichts anfangen können, die besseren Demokraten sein? Sie können strukturell nur das Produkt ihrer Umgebung sein. Wir (also Österreich) sind schuld an ihnen.