Erstellt am: 28. 7. 2014 - 06:00 Uhr
Elender Krieg
Manche Geschichten kann man nicht vergessen.
Etwa die vom Soldaten, der im Ersten Weltkrieg an der französischen Front nachts unter Beschuss gerät. Im Dunkeln muss er sich auf den Boden werfen, muss zwischen den Schützengräben regungslos im Dreck verharren. Am nächsten Morgen erkennt er, worauf er die ganze Nacht über gelegen hatte: auf einem Toten – die Hände in dessen Gedärmen.
Der Soldat war der Großvater von Jacques Tardi - einem der bekanntesten gegenwärtigen französischen Comiczeichner.
Tardi/Edition Moderne
Diese grausige Begebenheit erzählt Tardi in seinem Band "Grabenkrieg". In diesem skizziert er die heftigen Erlebnisse einiger einfacher Soldaten: Männer, die gnadenlos erschossen werden, Männer, die ihre sterbenden Kameraden retten wollen, oder Männer, die in den Selbstmord getrieben werden, nachdem sie töten mussten.
Tardi interessiert sich nicht für den vor Kraft strotzenden, unerschrockenen Helden. In einem Interview meinte er: "Der mutige Bursche interessiert mich nicht – der zweifelnde Antiheld ist es vielmehr."
Mit diesen zweifelnden Antihelden zeigt er schonungslos den menschenverachtenden Schrecken des Krieges - in Schwarz-Weiß. Farbe wäre fehl am Platz.
Eingestreut liest man historische Zitate des Militärs. Etwa "Bei aller Trauer, welch ein Glück wird den Familien zuteil, deren Blut für das Vaterland fließt."
Das sinnlose Kämpfen und schreckliche Dahinsiechen in Schützengräben beschreibt Tardi auch in seinem wohl bedeutendsten Werk "Elender Krieg".
Tardi/Verney/Edition Moderne
Darin erzählt ein anonymer französischer Soldat chronologisch von seinem Kriegsalltag. Schon beim Marsch zum Kriegsfeld würde er gern mit den ihm entgegenkommenden Flüchtlingen oder mit den Kriegsgefangenen tauschen – haben die es doch bereits hinter sich. Er aber muss an die Front. Dort wird er bis Kriegsende die Hölle auf Erden erleben.
Wertlosem Kanonenfutter gleich muss er, wie Millionen anderer Soldaten, den wahnwitzigen Plänen von besessenen Oberbefehlshabern folgen, muss Teil werden dieses industrialisierten Abschlachtens.
Die ersten Seiten von "Elender Krieg" sind in kräftigen Farben gezeichnet – doch die verblassen schnell und weichen einer matschigen graubraunen Darstellung.
Wie gewohnt erzählt Tardi direkt, klar und eindringlich und veranschaulicht so die Schrecken des Krieges drastisch.
"Elender Krieg" hat Tardi in enger Zusammenarbeit mit dem französischen Historiker Jean-Pierre Verney herausgebracht. Verney schreibt im Anhang eine leicht verständliche historische Abhandlung der Kriegsjahre – chronologisch schildert er jedes Kriegsjahr und bebildert das mit zahlreichen Fotos aus seiner Sammlung. Manche von ihnen dienten als Grundlage für Zeichnungen.
Dazu gibt es auch gut aufgearbeitetes Unterrichtsmaterial.
Unaufdringlich, aber umso eindringlicher gelungen ist die Gegenüberstellung der französischen und deutschen Fotodarstellungen: Anfangs werben mutige und entschlossene Soldaten in beiden Ländern für den Kriegseintritt. Später gleichen sich die geschockten und hoffnungslosen Gesichter in beiden Schützengräben. Die Verwundeten bzw. Toten kann man nicht mehr unterscheiden.
Tardi spart nicht mit Kritik am Staat und an der Kirche. Er zeigt das sinnlose Unterfangen, genährt aus Hass und Dummheit auf, für das Millionen Menschen ihr Leben lassen mussten.
Jacques Tardi und die Ehrenlegion
"Sowieso glaube ich, dass der großartige französische Zeichner Jacques Tardi mit seinen Büchern 'Grabenkrieg' und 'Elender Krieg' bereits alles zum Ersten Weltkrieg gesagt hat..." (Joe Sacco im Vorwort zu "Der Erste Weltkrieg".)
Der "Nationale Orden der Ehrenlegion" ist die ranghöchste Auszeichnung des französischen Staates für militärische und zivile Verdienste. Verliehen wird sie Leuten, die sich mit besonderen Talenten oder Tugenden um die Nation verdient gemacht haben.
2013 wird die Ehre dem angesehenen Jacques Tardi zuteil. Aber der lehnt ab – und zwar "mit größter Entschiedenheit", wie er in einem handgeschriebenen Brief der französischen Presseagentur AFP mitteilt. Er sei seiner Freiheit des Denkens und der Kreativität so verbunden, dass er nichts von staatlicher Seite annehmen wolle - vor allem keine Macht, sei sie politisch oder wie sonst auch immer begründet. Orden und Ehrenzeichen sind für Jacques Tardi Hilfsmittel zur "Instrumentalisierung und Manipulation". Diese klare Haltung spiegelt sich in seinen Werken, die sich meist auf den Ersten Weltkrieg beziehen.
Der medienscheue Tardi gibt kaum Interviews – seine Werke würden genügend gesellschaftsrelevante Fragen beantworten.