Erstellt am: 22. 7. 2014 - 11:53 Uhr
Gummischnüre in Bewegung, Erlösung
Festivalradio
Unterwegs in Österreich und im Ausland: das ist dein Festivalsommer auf FM4
Die komplette Reizüberflutung, aus feinem Garn gezwirbelter Indie, Supercheese-Faktor aus dem Synthesizer, Druckbetankung durch die Bass Drum. Am Montag ist gegen 6 Uhr morgens nach dreieinhalb Tagen Synpasenüberforderung das Melt! Festival zu Enden gegangen, als eine herannahende Sonne auch noch die Unnachgiebigsten vom seinem Namen wieder einmal alle Ehre machenden Sleepless Floor gefegt hat. Hoffentlich ins Bett.
Wie sich das schon am Freitag angekündigt und in Folge bestätigt hat, ist das alles wieder ganz wunderbar gewesen, was sich da zwischen gigantischen, rostbraunen, wie aus dem Mad-Max-Fundus geborgten Fördergeräten auf dem Ferropolis genannten Festivalgelände nahe Gräfenhainichen auf 5 bis 6 Bühnen - und auch dazwischen und davor - so abgespielt hat.
Rund 130 Bands, DJs, Acts und Kunstformen dazwischen, schöne, gute, nette Menschen - aber auch, man muss es kurz in den Raum stellen, zunehmende Karnevalsisierung der Randzonen des Festivals: Karaoke, ein Ritt auf dem elektronischen Bullen, Mobiltelefon-Tauchen aus dem Wasserbottich. Aus finanzierungstechnischen Gründen muss das wohl sein, aber das muss nicht sein.
Philipp L'heritier
Philipp L'heritier
Abgesehen von derlei kleiner bigotter Konsumkritik kann auch von Samstag bis hinein in den frühen Montag fast ausschließlich Flauschiges und Fantastisches vom Melt! berichtet werden. Das berühmteste Animal-Collective-Mitglied aller Zeiten, Panda Bear, trat da zum Beispiel mit einem wohl selber zusammengesägten Fantasie-Synthesizer mit ostentativ vielen bunten Kabel dran vor ein seliges Publikum, das sich augenscheinlich zwischendurch auch mal psychedelisch einlullen lassen wollte.
Wie es sich gehört stand Panda Bear vor einer bunt zuckenden Lichttapete, die wahlweise erdbeerfarbene Gummischnüre in Ekstase, menschenähnliche Puppen in fließender Verrenkung oder interessante Gestaltungsvorschläge für die nächste Batik-Session zeigte.
Wer meinte, von der quietschigen Mosaik-Musik, den Gesängen und dem Gefiepse aus dem explodierenden Kaleidoskop und vielstimmig vibrierenden Engelszungen aus dem Fundus der Beach Boys, wie sie vom Animal Collective - noch einmal: einer der besten und wichtigsten Bands der Nuller-Jahre - und seinen Nebenprojekten und Epigonen in der jüngeren Vergangenheit gerne mit überschäumender Verve praktiziert worden sind, aber nun wirklich schon genug gehört zu haben, wurde von Herrn Panda Bear eines Besseren belehrt. Und eines Schöneren.
Panda Bear hatte sehr viel neues, unveröffentlichtes Material auf dem Tablett. Stücke, die einerseits auf einem Fundament von tiefbassigem Dub munter daherwogten, andererseits Musik, in der zwitschernde Kraut-Elektronik und durchaus zum Tanzen geeignete Beats, abgesaugt aus den abstrakteren Ecken von HipHop und R'n'B, herrliche Allianzen schmiedeten. Gesanglich gibt es von Panda Bear nach wie vor gut verhallte Wunderharmonien zu hören, jedoch aktuell nicht mehr mit allzu hohem Druck auf der Zuckertube, sondern oft dunkler gefärbt und an Doo Wop und Sixties-Girl-Group-Stuff angelehnt. Noch dieses Jahr wird ein neues Album von Panda Bear erscheinen und er wird sehr gut sein.
Philipp L'heritier
Philipp L'heritier
Derweil forschte das australische Duo Say Lou Lou im Gegenteil von Avantgarde. Die Zwillingsschwestern Miranda und Elektra Kilbey suchen mit ihrer Musik im engen Spekrum zwischen Robyn, ABBA, Chvrches und La Roux nach den nur eingängigsten Momenten. Die Stücke handeln von Nachtleben, Ekstase, Melancholie und enttäuschter Liebe. Dieser Ansatz zeitigt mitunter richtig feine, pop as can be Songs, ist auch live bisweilen, bei Hits wie "Beloved" oder "Better in the Dark", mitreißend, insgesamt jedoch noch etwas dünn und eindimensional gedacht. Aber es ist ja erst der Anfang der Gruppe. Wird man sich merken wollen, Say Lou Lou, sofern man vor dem schönen Wort "Mainstream" keine Angst hat.
Philipp L'heritier
Robert Winter
Auf der Mainstage erwiesen sich Metronomy und The Notwist verlässlich als Quasi-Co-Headliner. Die Umschlingungen von Indie-Pop und Elektronik, mal poppiger und niedlicher, mal experimenteller und angejazzt gedeutet - selten wurden sie so souverän, erhellend, sympathisch und mitreißend auf große, große Bühne gestellt. Beruhigend, dass derlei Musik im Stande ist, wirklich viele, viele Menschen zu locken.
Sehr voll war es erwartungsgemäß auch bei den Garanten von Moderat, die wie gewohnt stilsicher Beat, Bass, Schmuse-Elektronik und Publikumswonne verheirateten. "Dankeschön! Ihr seid so lieb zu uns, ihr könnt noch so viel am Sonntag" sprach Herr Apparat und hatte freilich recht. Seine Kollegen Modeselektor hatten am Vortag auf der von ihnen gehosteten Bühne den syrischen Hochzeitssänger Omar Souleyman samt Beat-Begleitung, Four Tet sowie Addison Groove aufgefahren und sich selbst mit Patrick Pulsinger für ein gemeinsames DJ-Set hinter die Geräte gestellt.
Sehnsuchtsboy SOHN kann mittlerweile souverän die Mainstage bespielen, ein absoluter Höhepunkt versteckte sich aber abseits des großen Trubels im INTRO-Zelt: Die burgenländische Band Ja, Panik ist eine der besten der Welt. Arrogant, witzig, schlau. "One World. One Love. Libertatia", sang Andreas Spechtl und beschrieb zu diesen Worten mit seiner Hand in Zeitlupe in der Luft einen Bogen der Liebe. Die Zeile "Dieses Land hier ist es nicht!" wurde mit besondere Emphase vorgetragen, dass letzte Woche die Fußball-WM zu Ende gegangen ist, wird die Gruppe Ja, Panik aber vielleicht gar nicht mitbekommen haben. Es gab Kracherruptionen, geile Gitarren-Soli im Andenken an Neil Young und smooth jangelnden Wave-Pop. Es gab Posen, Ansagen und Haltung. Punk und Rock'n'Roll und die Dekonstruktion von allem, was doof ist an Rock'n'Roll. Eigentlich wissen es alle.
Stephan Flad
Stephan Flad
Philipp L'heritier
Einen geeigneten konzerttechnischen Schlusspunkt - abgesehen von auch danach noch da oder dort weitergehender Raverei - setzte der Auftritt von Portishead auf der Main Stage. Man kann Portishead ja schon lange nicht mehr auf die Formel "TripHop" festnageln. Beim Melt! präsentierte sich die Gruppe als psychedelische Rockband, zwischen Kraut und Krach, zwischen Folk und Kammerpop auf elektronischem Federbettchen, da und dort gar mit industrialhaften Einschüben.
Neue Stücke gab es nicht zu hören, der Fokus des Konzerts lag auf dem sehr guten dritten Album "Third", dicht gefolgt vom Genre-Klassiker "Dummy". Das zweite Album streiften Portishead nur ganz kurz. Andächtig wurde im Publikum geschwelgt und respektvoll gehuldigt. Auch wenn das Konzert ziemlich fantastisch war: Es war mitunter wie eine Pflichtaufgabe, deren Vergnügen man sich ständig selbst einreden musste. Bei Hits wie "Sour Times", "Glory Box", "Machine Gun" oder dem großartigen "The Rip" gab es dann doch euphorisiertes Gejohle.
Robert Winter
Robert Winter
Nun ist Portishead auch eine eher "theoretische" Band. Raserei wollte hier nicht mehr aufkommen. Partymusik ist das ja keine. So bot das Konzert von Portishead Gelegenheit zum seelischen Come Down, zur reinigenden Introspektive, zur Befreiung von schlechtem Gewissen, lieferte Erlösung nach dreieinhalb Tagen Wahnsinn. Traurig durfte man auf die kommende Woche und die Depression blicken. Wieder einmal: Post Shakey Time Sadness. Sie kommt nur, wenn es davor ganz famos gewesen ist.