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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

21. 7. 2014 - 13:13

Die Nachbarschaft brennt

Kann man sich einen Konflikt aus der Ferne erlesen? Der Autor Andrej Kurkow veröffentlicht sein "Ukrainisches Tagebuch".

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Viktor in Kiew hätte in diesen Tagen kaum Zeit für seinen Pinguin Mischa. Er käme mit dem Verfassen von Nachrufen nicht nach. Mit dieser Tätigkeit schlug sich die Hauptfigur aus Andrej Kurkows Romanen "Picknick auf dem Eis" und "Pinguine frieren nicht" in der Hauptstadt der Ukraine durch. Zur Ukraine fiel einem als durchschnittlicher Europäerin bis vor wenigen Monaten nur die Gretelfrisur Julija Tymoschenkos und das Stichwort Orange Revolution ein. Im besten Fall kannte man das Land aus den Geschichten Kurkows. Denn letztere sind bei aller realistischen Tristesse Ausgeburten an Fantasie. Mitten im Sommer empfiehlt sich eigentlich der Griff zu "Pinguine frieren nicht" oder die literarische Reise in die Vergangenheit mit "Der wahrhaftige Volkskontrolleur" in die Sowjetunion. Wäre da nicht die Neuerscheinung von Andrej Kurkow: "Das ukrainische Tagebuch" verspricht "Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests".

Das Cover des Buchs "Ukrainisches Tagebuch" zeigt eine Statue und die Fahnen der Ukraine

Haymon Verlag

Aus dem Russischen von Steffen Beilich ins Deutsche übersetzt, ist Kurkows jüngstes Buch beim österreichischen Verlag Haymon erschienen.

Seit drei Jahrzehnten schreibt Andrej Kurkow Tagebuch. Nun, zehn Jahre nach der unblutigen Orangenen Revolution, ist in seinem Land wieder Revolution - doch diesmal herrschen Kriegszustände. Ein Anlass, die täglichen Notizen publik zu machen. Schließlich lebt der 53-jährige im Zentrum Kiews und zwar unweit des Majdan-Platzes, wo sich Ende November 2013 Demonstrationen formierten, die bald weit über die Grenzen des Landes zu täglichen Nachrichten wurden.

Kann ein Autor einem dieses Land so näherbringen, in dem Donnerstagabend ein ziviles Linienflugzeug mit fast 300 Menschen ab Bord offenbar abgeschossen worden ist? In dem Menschen verschwinden, sich die Halbinsel Krim im März abgespalten und in die Russische Föderation begeben hat, und wo in der ostukrainischen Stadt Donezk Gefechte toben, die tausende EinwohnerInnen zur Flucht veranlassen?

Ein Anrainer berichtet

Nun, Andrej Kurkow hat die Nachrichten aufmerksam verfolgt und fügt die Ereignisse in nahezu täglichen Einträgen von November 2013 bis in diesen April aneinander. Die Ereignisse hat Kurkow selbst aus den Nachrichten, er übernimmt sie ohne Quellenverweise. Das ist zuallererst recht enttäuschend, bis sich das Geschehen zuspitzt und Kurkow dem eigenen Erleben mehr Platz einräumt. Seine Kinder haben schulfrei, weil Chaos herrscht. Die Hähnchen als köstliche Abendessen mit Freunden am Land werden seltener. Vor Kurkows Wohnungstüre stehen stundenlang drei Männer in Schwarz.

Über 45 Millionen EinwohnerInnen, 184 Parteien, diverse Oligarchen in diversen Landstrichen: Der Bestsellerautor Kurkow packt genügend Fakten in seine Tagebuch-Einträge für ein deutschsprachiges Publikum. Ein Glossar informiert darüber hinaus. Einzig eine Landkarte fehlt. War die Befürchtung zu groß, dass die Grenzen bei Erscheinen des Buches nicht mehr aktuell gewesen wären?

Es ist keine Paranoia, die Kurkow verspürt. Wer seiner Landsleute welcher Gesinnung und Gruppierung angehört, ist schwer im Vorübergehen zu kapieren. Andrej Kurkow vermittelt ein genaues Bild der politischen Landschaft, mit knappen historischen Rückblicken. Mit kurzen Notizen zu Kindergeburtstagen mit Paint-Ball-Spielen, Lesereisen und Verwandtenbesuchen spart Kurkow Privates überwiegend aus. Den Demonstrationen und Protesten am Majdan steht er als kritischer Beobachter gegenüber. Während er sich 2004 bei der Orangenen Revolution mit Schriftstellerkollegen aktiv einbrachte, bleibt er heute auf Distanz.

Die Themen würden sich seit der Orangenen Revolution immer wiederholen, schreibt Kurkow Anfang Februar 2014, und vergleicht die Situation mit der Eröffnung eines Schachspiels:

"Statt E2-E4 gerät Kiew in Aufruhr und der Osten kündigt entweder an, den bewaffneten Widerstand zu organisieren, oder, eine eigenständige Republik gründen zu wollen, während die Krim Russland bittet, Truppen einmarschieren zu lassen und sich die Halbinsel einzuverleiben. Dann fangen die regierungstreuen Beamten und Politiker an, ihre Landsleute 'anzufauchen'. um deren Aktion gewordene Dummheit so schnell wie möglich zu bändigen."

Autor Andrej Kurkow steht vor einem Bücherregal

Fotowerk Aichner

Kritischer Beobachter auf Distanz

Sich selbst beschreibt Andrej Kurkow als "ethnischen Russen" und Bürger der Ukraine, der keinen russischen Pass hat und auch keinen will. Die Vorgänge auf dem Majdan Nesaleschnosti werden durch die vielen Spaziergänge Kurkows zu einem lebendigen Bild, wo alte Frauen handgestrickte Socken an DemonstrantInnen reichen und zur Antwort bekommen, man habe schon zwei Paar. Die Neujahrstanne am Platz wird zum Agitationsobjekt Ende Dezember. Im Jänner rücken immer mehr Soldaten und Berkut-Einheiten in die Hauptstadt. Im Februar zielen Scharfschützen in Zivil auf die Augen von Demonstranten und Journalisten. Die ersten Menschen werden getötet. Kurkow vermerkt: "Es ist Krieg". Als Kurkow in einem Polizeirevier anruft, hebt man ab mit den Worten: "Ja, entschuldigen Sie, aber wir sehen uns gerade die Parlamentssitzung an" und legt auf.

Wie lebt man in einem Staat, in dem die Exekutive die BürgerInnen sich selbst überlässt? Davon erzählt Kurkow beiläufig. Und bringt einem auf 240 Seiten soviel über die Ukraine näher, dass man die täglichen Hiobsbotschaften bewusster wahrzunehmen vermag.