Erstellt am: 16. 7. 2014 - 21:25 Uhr
Britannien, bist das du?
Unschön war das anzusehen gestern so gegen Mitternacht, als auf Twitter eine Auseinandersetzung zwischen zwei Figuren entbrannte, die normalerweise an einem ähnlichen Ende des politischen Spektrums zu Hause sind.
*Wenn etwas ganz unmerklich geschieht, wie etwa die derzeitige Demontage des Datenschutzes in Großbritannien, nennt man das auch einen "drip drip effect".
Ein Labour-Lokalpolitiker hatte die Unterhausabgeordnete Stella Creasy zur Rede gestellt, weil sie für das "Notstandsgesetz" zur erweiterten Vorratsdatenspeicherung mit dem unabsichtlich humorvollen Akronym DRIP* (Data Retention and Investigatory Powers) gestimmt hatte. Er wollte wissen, warum.
Das wolle sie ihm lieber per Email erklären, meinte Creasy.
Owen Jones, Posterboy der jungen Linken, FM4-Leser_innen bekannt als Autor des Bestsellers Chavs, mischte sich ein und forderte von Creasy eine öffentliche Erklärung.
Auf Twitter gehe sowas nicht, erwiderte die Abgeordnete, die an sich ständig über alles Mögliche von Politik bis Indie-Musik twittert.
Twitter/Owen Jones
Der ganze Thread rund um die Auseinandersetzung zwischen Stella Creasy und Owen Jones hier in groß zum gemütlich Durchscrollen.
Dann eben ein Blog, das brauche nur fünf Minuten, sagte Jones.
Sie habe ganz viele Anfragen zu beantworten und keine Zeit dafür, erwiderte Creasy.
Warum nicht gleich allen zusammen öffentlich in einem Blog antworten, beharrte Jones, sinngemäß (Verzeihung, wenn ich jetzt nicht so weit in meinem Feed runterscrolle, dass ich wörtlich zitieren kann. Das Leben ist kurz, und ich habe äh... viele Anfragen zu beantworten).
Natürlich wusste Owen Jones, dass er Creasy an einem wunden Punkt erwischt hatte. Creasy wiederum kann sich darauf verlassen, dass das Thema im diesbezüglich fatalistisch apathischen Vereinten Königreich eine Nischenangelegenheit ohne entscheidende wahlpolitische Konsequenzen bleibt.
Warum eine erwiesene Prinzipienpolitikerin wie sie es für okay hält, sich ausgerechnet in dieser Frage mit Loyalität gegenüber der Parteiführung Gutpunkte abzuholen, bleibt trotzdem eine interessante Frage.
Ich für meinen Teil darf mich bequem auf Erich Möchel berufen, der schon vorgestern hier den Inhalt und die Umstände dieses britischen Alleingangs in all seiner überwachungsgesellschaftlichen Gruseligkeit beschrieben hat.
Nur in einem stimme ich mit ihm nicht überein, nämlich der Bezeichnung der Labour Party als "Sozialdemokraten". Die sind sie eben im historischen Sinne nicht wirklich, sondern eine Partei sowohl der Arbeiter_innen als auch derer selbsterwählter Wohltäter_innen, manchmal mit im kontinentalen Sinn wiedererkennbar "linken", oft aber auch mit ausgeprägt paternalistischen Tendenzen.
Will sagen: Links und rechts funktionieren in Großbritannien ein bisschen anders, nicht zuletzt, weil die Rechte nicht aus einer faschistischen, sondern eigentlich aus einer sehr eigentümlich britisch-libertären Tradition kommt (zufälligerweise habe ich gerade zu diesem Thema neulich für ein noch bis Samstag hier nachhörbares Ö1 Diagonal zum Thema "Freiheit" - anlässlich des 225jährigen Jubiläums der Französischen Revolution - einen Beitrag produziert).

https://www.flickr.com/photos/defenceimages/
Insofern ist die Bedenkenlosigkeit, mit der David Cameron und seine Innenministerin Theresa May gestern unter zynischem Verweis auf latente Terrorismusgefahr und in den Tiefen des Internet lauernde pädophile Netzwerke DRIP durch das Unterhaus gepeitscht haben, ideologisch mindestens genauso pervers wie die Komplizenschaft ihrer Gegenstücke aus Labours Schattenkabinett, Ed Miliband und Yvette Cooper.
Und dann erst Nick Clegg, der Liberaldemokrat. Der sein Umfallen mit dem argumentativen Gummimenschen-Stunt rechtfertigte, dass man so die Sicherheit schaffe, in der man dann eine weitere Debatte über Zivilfreiheiten führen könne. Lohnt schon gar nicht mehr, sich darüber aufzuregen.
Sicher, es gab auch ein paar Rebellen auf der Rechten wie der Linken, Tom Watson bei Labour, David Davies bei den Tories, aber bei der gestrigen Abstimmung kam letztlich eine Mehrheit von 498 zu 31 heraus, ganz ohne Diskussion oder öffentliches Interesse, zumal Cameron am selben Termin eine alles andere in den Schatten stellende Regierungsumbildung präsentierte.
Generell wurde dieser "Reshuffle" als eine wahlstrategisch kluge Verjüngung und Verweiblichung gehyped (obwohl der Anteil weiblicher Regierungsmitglieder tatsächlich nur von 27 auf 29 stieg).
Der Guardian, der sich als Snowden-Sprachrohr mit seiner Berichterstattung über DRIP übrigens auch erstaunlich wenig aufhielt, ortete in einem Leitartikel hinter Camerons Säuberung seines Kabinetts dagegen das Projekt, Großbritannien in den nächsten drei Jahren in politisch isolationistische Steueroase – ein Singapur mit Nuklearwaffen – zu verwandeln.
Ein möglicher Wahlschlager, auf den die Regierungs-Rochade hinzuarbeiten scheint, ist neben der Aussicht auf einen EU-Austritt (der neue Außenminister Philip Hammond ist noch euroskeptischer als sein Vorgänger) nämlich der von der Parteirechten immer wieder gern geforderte Ausstieg Großbritanniens aus der europäischen Menschenrechtskonvention; und zwar im Austausch gegen eine völlig neue, eigene British Bill Of Rights, in welche man dann reinschreiben kann, was einem angesichts des permanenten Notstands gerade opportun erscheint.
Abgesehen von der geschichtlichen Ignoranz hinter dieser europhoben, vom Boulevard permanent mit Schauergeschichten über absurde kontinentale Rechtssprüche zugunsten ausländischer Missetäter befeuerten Agenda (tatsächlich war einer der Hauptbeteiligten am Entwurf der Menschenrechtskonvention ein britischer Konservativer), deutet der Drall dieser Tendenzen nicht nur in Kombination mit DRIP in eine ziemlich bedenkliche Richtung.

https://www.flickr.com/photos/ell-r-brown/
Nebst der anstehenden Erneuerung der britischen Nuklearwaffen hat David Cameron nämlich diese Woche trotz anhaltender Austerität auch 1,1 Milliarden Pfund extra für das Rüstungsbudget versprochen, darunter 800 Millionen Pfund (eine Milliarde Euro) für ein nicht näher definiertes "intelligence, surveillance, target acquisition and reconnaissance package."
Darunter seien "so Dinge wie Spezialeinheiten, so wie die SAS, mit interessanten Informations- und geheimdienstlichen Fähigkeiten" zu verstehen, zitiert die BBC den Verteidigungsexperten James de Waal: "They're cyber."
Aha, passt schon. Wer da genaueres wissen will, hat sowieso selber was zu verbergen.
Britannien, bist das wirklich du?
Ich kann ja als Dauergast von diesem Land nicht verlangen, mein einstiges naives Grundvertrauen in dessen vorgeblich skeptische, antiautoritäre Seele zu erfüllen, aber ein furchtbares Missverständnis ist das alles irgendwie schon, kommt mir vor.