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Johannes Schmidt Rio de Janeiro

Geschichten aus der WM-Stadt

16. 7. 2014 - 18:38

Ein Monat WM-Fieber in Rio

Brasilien ist raus – aber Argentinien Gott sei Dank nicht Weltmeister. Ein persönliches WM-Resümee vom Fußballschauen im Zentrum des Geschehens.

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Zumindest haben wir sieben Brasilienspiele gesehen. Auch wenn die letzten zwei Spiele aus brasilianischer Sicht nicht mehr so fein waren: wir müssen zugeben, wir haben das Spektakel genossen.

Am Vormittag des 12. Juni, am Tag des Eröffnungsspiels, gehen wir noch auf eine Demonstration. Es wird die letzte größere Demonstration im Rahmen der WM sein. Sie ist sehr bunt und ausgelassen - auch unter den Demonstrierenden spürt man teilweise schon die Spannung wegen des nachmittäglichen Spiels. Und als würde mit Anpfiff des Eröffnungsspiels ein Schalter umgelegt, ist auf einmal alle Kritik wie weggeblasen.

Wir merken es im Lift und wenn wir mit den Portiers in unserer Unterkunft reden, bei den Gesprächen mit KollegInnen in der Arbeit oder mit FreundInnenn am Abend bei einem Bier: während vor der WM über die hohen Ausgaben gelästert wurde und die negativen Folgen der WM kritisiert wurden, war mit Anpfiff des Eröffnungsspiels nur mehr ein Thema präsent: der Fußball. Und ja, auch wir erliegen dem Fieber.
Das Eröffnungsspiel sehen wir im Alzirão, einer traditionellen Fanzone in Rio, wo schon seit den 1970er Jahren die Brasilienspiele öffentlich gezeigt werden. Wir werden von einem Meer aus gelben T-Shirts empfangen, von verkleideten Menschen, sogar der Weihnachtsmann ist gekommen, um den 3:1-Sieg über Kroatien zu sehen. Und alle sind zuversichtlich: den Titel, den wird die Seleção holen! Es wird sehr, sehr voll und nach dem Schreck des Eigentors dann noch ein versöhnlicher Abend.

Demonstration in Brasilien rund um die Fußball-WM

ORF Radio FM4 | Johannes Schmidt

Nicht versöhnlich war die Stimmung im Stadium: die der linken Arbeiterpartei zugehörige Präsidentin Dilma wird im Stadium ausgepfiffen – und mit nicht jugendfreien Worten beschimpft. Die weiße Mittelschicht, die es sich leisten kann, ins Stadium zu gehen, die beschimpfe die linke Präsidentin, weil ihnen die sozialen Reformen zu weit gehen, hören wir in Folge oft. Das sei eine Schande für das Land. Sichtlich gezeichnet reagiert Dilma mit einer Fernsehansprache: davon lasse sie sich nicht einschüchtern, sie habe schließlich schon die Folter der Militärdiktatur überstanden. Solche verbalen Angriffe würden sie nur stärker machen für den Wahlkampf: der steht dieses Jahr an, im Oktober wird gewählt.

Brasilienspiele und Spiele im Maracanã haben einen Mehrwert für die Cariocas, die EinwohnerInnen von Rio: an diesen Tagen werden halbe oder sogar ganze Feiertage in Rio ausgerufen, in einer Woche im Juni arbeiten wir überhaupt nur einen Tag. Man hat das Gefühl, die Stadt wird heruntergefahren, damit alle die Spiele sehen können – und es an den Spieltagen zu keinem Verkehrschaos kommt. Das Spiel gegen Kamerun schauen wir in der Veranstaltungshalle von Mangueira, einer der renommiertesten Sambaschulen Rios und am Rand einer Favela gelegen. Das Publikum ist gemischt: es sind viele Menschen aus den Favelas hier, kleine Kinder, die noch kleinere Kinder am Arm tragen, aber auch Gringos wie wir oder Mittelschichtler aus dem Süden Rios. Das 4:1 wird intensiv mit Bier und Gras abgefeiert, und im Anschluss spielt noch Marcello D2, der bekannteste HipHop-Artist Rios. So stellen wir uns eine WM in Brasilien vor.

Im Vorfeld der WM haben zivilgesellschaftliche Organisationen auf die vielen sozialen Probleme, die durch die WM verursacht werden, aufmerksam gemacht. Unter anderem würden Obdachlose von den Straßen verschwinden – und die informellen VerkäuferInnen, genannt Ambulantes, vertrieben werden. Uns fallen keine besonderen Säuberungswellen auf, die Stammobdachlosen auf der Straße vor unserer Wohnung sind auch während der WM hier. Nur an der Copacabana tauchen eines Abends Obdachlose bei der Polizei auf: sie fühlten sich von den argentinischen Fans, die in Massen die Copacabana besetzt halten, bedrängt. Von Salvador im Nordosten des Landes hören wir aber, dass Obdachlose tatsächlich aus dem Stadtzentrum abtransportiert und in eigene Heime gesteckt wurden. Die Ambulantes werden zwar aus den offizellen Fanzonen und aus dem Stadium ferngehalten, sie sind aber gleichzeitig in den Partyzonen der Innenstadt und auch rund um die Fanzone an der Copacabana omnipräsent. So können FIFA-Devotionalien wie z.b. Kopien des WM-Pokals nur wenige Meter vom offiziellen Shop entfernt auf der Straße um einen Bruchteil des dortigen Preises erstanden werden. Es gäbe zwar immer wieder Polizeikontrollen, erzählt uns einer der Verkäufer, aber man müsse in diesem Job einfach lernen, schnell zu laufen.

Das 1:1 gegen Chile mit anschließendem Elfmeterschießen sehen wir bei einem Public Viewing bei uns um die Ecke. Es werden nervenaufreibende zweieinhalb Stunden, die wir wieder mit bunt gemischtem Publikum verbringen. Es geht knapp gut aus und die ganze Straße liegt sich im Jubelstaumel in den Armen. Brasilien ist noch auf der Siegerstraße und der Sieg gegen Kolumbien wird gemäß dem Stereotyp lautstark mit Sambatrommeln gefeiert, obwohl Neymar verletzt wurde und für die WM ausfällt. Die Medien peitschen Brasilien vor dem Spiel gegen Deutschland ein: die Mannschaft werde umso mehr kämpfen, um den Ausfall Neymars und Thiago Silvas zu kompensieren.
Und dann das. Der Tag beginnt düster in Rio: mit Regenfällen und wolkenverhangenem Himmel.

Fassungslos sehen wir mit vielen Brasileiros im Circo Voador, einem Konzertzelt im Zentrum von Rio, das Spiel gegen Deutschland. Bei jedem Tor schauen wir uns an, schütteln nur ungläubig den Kopf. Die Bierschlangen werden immer länger, der Platz vor dem Bildschirm immer leerer. Aber wir finden: sie nehmen es in Summe mit Fassung, die Brasileiros und Brasileiras. Vielleicht liegt es am vielen Gras oder am Bier: nach dem Match spielt eine Liveband grandiosen Afrojazz und das Publikum tanzt, bis das Licht angeht. Wer jeden Tag wie ein Löwe ums Überleben kämpfen muss, so erzählt uns eine Freundin später, den kann so ein Spiel nicht aus der Balance werfen.

Beim Spiel Argentinien-Holland halten wir zu Argentinien – aber leise. Weil die Rivalität Argentinien – Brasilien, das ist kein Lercherlschas. Die Argentinier kriegen sich nach dem Sieg natürlich nicht mehr ein: ob sie sich mehr über den Finaleinzug oder das 7:1-Debakel Brasiliens freuen, ist nicht ganz klar. Auf jeden Fall werden auf beiden Seiten Lieder gedichtet und das große Finale, das wir uns an der Copacabana anschauen, wirkt wie ein Duell Brasilien – Argentinien. Die deutschen Fans – in der Minderheit – verhalten sich fast zurückhaltend höflich im Vergleich zur Schlacht der Nachbarn. In der U-Bahn geraten wir fast in eine Rauferei und das Lieblingslied der Argentinier hören wir am laufenden Band...

Brasil decime que se siente / haber perdido de local / Te juro que aunque pasen los años / nunca nos vamos a olvidar / Que a Alemanha te goleó / Tu hinchada te silvo / Sin duda brasileiros sos cagon

Brasilien, sag mir, wie fühlst du dich, jetzt wo du zu Hause besiegt wurdest? Wir versprechen dir, auch in vielen Jahren werden wir nicht vergessen, wie dich Deutschland paniert hat, und dich deine eigenen Fans ausgepfiffen haben. Ohne Zweifel, ihr Brasilianer seid Angsthasen.

Die angekündigte Revolution auf der Straße hat während der WM nicht stattgefunden. Schon zuvor war die Protestbewegung abgeflaut – trotz der in der Bevölkerung weit verbreiteten Wut über die WM und die damit verbundenen Ausgaben. König Fußball und die Angst vor Gewaltexzessen der Polizei und des schwarzen Blocks haben dann wohl dazu beigetragen, dass die wenigen Proteste mit einer sehr geringen Anzahl an Teilnehmenden stattfanden. Misstöne zum Abschluss gab es aber trotzdem: vor dem Finale werden in Rio 26 AktivistInnen festgenommen. Die Stadt soll dicht gemacht werden. Und die Polizei überschreitet bei der kleinen Demo mit 250 Leuten, parallel zum Endspiel veranstaltet, alle Grenzen des Erträglichen: Zehn Reporter werden verletzt, ein kanadischer Journalist muss ins Krankenhaus und die Protestierenden werden stundenlang eingekesselt und festgehalten. Nach dem Spiel, so scheint es, ist vor dem Spiel.