Erstellt am: 11. 7. 2014 - 22:22 Uhr
The daily Blumenau. WM-Journal '14, Eintrag 80.
Das ist das WM-Journal '14, die einzige seit Jahren schon live unternommene strategisch-taktische Einschätzung der Matches in Österreich.
Gestern habe ich für heute Teil 2 der Einschätzung, was von dieser WM denn übrig bleiben werde, versprochen. Der Text hat jetzt aber eine andere Form angenommen und passt nicht so recht in die Reihe. So ist es halt.
SF1: Brasilien - Deutschland
SF2: Niederlande - Argentinien
VF1: Deutschland - Frankreich
VF2: Brasilien - Kolumbien
VF3: Argentinien - Belgien
VF4: Niederlande - Costa Rica
AF1: Brasilien - Chile
AF2: Kolumbien - Uruguay
AF3: Niederlande - Mexiko
AF4: Costa Rica - Griechenland
AF5: Frankreich - Nigeria
AF6: Deutschland - Algerien
AF7: Argentinien - Schweiz
AF8: Belgien - USA
Das WM-Ranking:
Die Top 4 vor den Platzierungsspielen:
1. Deutschland 16p 17:4
2. Argentinien 16p 8:3
3. Niederlande 14p 12:4
4. Brasilien 11p 11:11
---
5. Kolumbien
6. Belgien
7. Frankreich
8. Costa Rica
---
9. Chile
10. Mexiko
11. Schweiz
12. Uruguay
13. Algerien
14. Griechenland
15. USA
16. Nigeria
---
17. Ecuador
18. Portugal
19. Bosnien
20. Kroatien
21. Cote d'Ivoire
22. Italien
23. Spanien
24. Russland
---
25. Ghana
26. England
27. Südkorea
28. Iran
29. Japan
30. Australien
31. Honduras
32. Kamerun
Das WM-Journal ist Teil des daily blumenau, das seit Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst hat. Mit Items aus diesen Themenfeldern.
Warum Argentinien Weltmeister werden sollte
Weil bestimmte Traditionen dazu da sind fortgeführt zu werden. Etwa die, dass noch nie ein Team aus Europa auf amerikanischem Boden einen WM-Titel geholt hat. Oder auch die, dass Brasilien daheim noch kein Turnier gewinnen konnte (im Gegensatz zur Copa America, dem Äquivalent zur Euro, wo Brasilien alle vier Heimturniere siegreich bestritt).
Weil dann das ewige Maradona-ist-Gott-Gerede aufhört. Und weil sich Messi danach entkrampfen kann.
Und auch weil es dem Fußballsport nicht schadet wenn eine Mannschaft, die eine so elegante Balance zwischen Defensive und Offensive hält, gewinnt.
Warum Argentinien nicht Weltmeister werden sollte
Weil einem schwachen Turnierstart in der Gruppenphase auch keine kapitale Besserung in der K.O.-Phase gefolgt ist - und die Steigerung in einem Bereich liegt, der vom Durchschnittsfan gar nicht wahrgenommen werden kann. Weil die Fixierung auf einer Führer-Persönlichkeit - auch wenn sie nicht von ihr selber ausgeht - noch nie etwas wirklich Gutes gebracht hat; das beste Beispiel ist die traumatisierte Fixierung auf Maradona, die Argentinien seit den 90ern lähmt.
Warum Deutschland Weltmeister werden sollte
Weil es nicht schadet, wenn die Mannschaft den Titel holt, die letztendlich am meisten überzeugt hat; auch wenn es mühselig und mit einer Hosenscheißer-Strategie begann.
Weil die Steigerung (im Gegensatz zu der Argentiniens) auch mit dem bloßen Auge wahrnehmbar ist.
Weil nicht allein die aktuelle Mannschaft, sondern alle deutschen Teams seit 2006, seit dem unerhörten Turnaround von Klinsmann und Löw, mit aufs Siegertreppchen steigen würden - vor allem die grandiosen WM-Teams von 06 und 10.
Weil damit nicht ein System oder eine clevere Taktik belohnt werden würde, sondern die (dringend nötige und überfällige) Überführung einer fußballerisch seit Jahrzehnten zunehmend lächerlicher agierenden sportlichen Weltmacht in die Fußball-Moderne.
Und weil diese Überführung symbolpolitisch, dadurch dann (wegen übergroßer Strahlkraft) aber auch realpolitisch ein Umdenken innerhalb eines kollektiven Handelns nach sich gezogen hat: aus dem hässlichen Deutschen, der alles panzergleich niederwalzt und das dann emotionslos rapportiert (also der Klischee-Figur des Hollywood-Nazis, die der Realität immer mehr entsprach als vielen sich einzugestehen imstande waren) wurde der neue Deutsche, der sensible Gestalter, der erste seiner Art, dem man patriotische Gefühle zugestehen kann, ohne dabei gleich an Goebbels denken zu müssen.
Dass diese Leistung einer Gruppe von gesellschaftspolitisch zwar aufgeschlossen denkenden Menschen innerhalb des DFB, aber dann doch Fachidioten der unbeleckten Abteilung Sport gelungen ist und nicht den dafür zuständigen Verantwortlichen in Realpolitik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, auch nicht den sich immer dafür im Brustton der Angeberei für zuständig erklärenden Künstlern, ist ebenso bemerkenswert wie einzigartig.
Die Mannschaft, egal ob die von 2006, die von 2014 oder die der Turniere dazwischen, war nie schlechter als Dritter, der große Wurf blieb ihr bislang verwehrt. In Brasilien stand nun aber kein Gegner mehr im Weg.
Warum Deutschland nicht Weltmeister werden sollte
Weil zwischen dem Wollen und dem Wirken und seiner Interpretation durch ein hysteriebesoffene Öffentlichkeit immer noch dramatische Schluchten klaffen.
Ich sag mal so: wären wir keine Nachbarn und würden die Sprache nicht verstehen, sondern nur als Sound mitbekommen, so wie der Rest der nicht detuschsprachigen Welt, hätten wir kein Problem.
Wir verstehen aber was eine vor Dummdreistigkeit strotzende Mainstream-Öffentlichkeit dahersalbadert, was die öffentlichen und privaten Stammtische und Stammhirne an absurden Überbewertungs-Fantasien absondern. Wir verstehen jedes medial aufgeplusterte Wort und können es deshalb ebensowenig putzig finden wie deutsche Schlager oder Volksdumms-Musik.
Die Bescheiden- und Besonnenheit, die Unaufgeregtheit, die das deutsche Camp, allen voran die Planer Bierhoff und Löw, und mit ihnen eine Mannschaft mit klugen Köpfen wie Lahm, Hummels, Mertesacker oder Neuer und schlauen Spielern wie Kroos, Schweinsteiger oder Schürrle an den Tag legt, benützt der Großteil der Fan-Meute und in erschreckender Einigkeit die fast gesamte Medien-Maschinerie dazu, sich selber von genau diesen grandiosen Tugenden freizusprechen und sich in grotesker Unverhältnismäßigkeit, geradezu jeanneesk also, zu einem Endspielsieger hochzuschwätzen. Ohne so recht zu abzuchecken, was das überhaupt bedeutet.
Das hat sicher auch mit Zeitgeschichte, verlorenen Weltkriegen und schwacher Aufarbeitung zu tun, zu einem Gutteil aber auch mit der unaufgearbeiteten Schuld, die die drei bisherigen deutschen Titel belastet.
Sowohl 1954 als auch 1974 gewann man - mit den berühmten deutschen Tugenden - gegen die damals jeweils stilprägenden Mannschaften dieser Tage. Die Klasse sowohl des ungarischen Teams der 50er als auch der holländischen Teams der 70er konnte der deutsche Titelträger nie auch nur ansatzweise erreichen. Die Ungarn und die Holländer füllen die Lehrbücher und die Fan-Seelen, nicht die Sieger. Das nagt, Titel hin oder her.
1990 obsiegte die DFB-Auswahl ja auch eher nur, weil sich sonst niemand aufdrängte: der damalige Finalgegner (es ist auch der von Sonntag) bot eine dementsprechend lächerliche Leistung; Maradona hin oder her. Die drei bisherigen WM-Titel tragen also alle den Makel mit sich, dass sie unverdient oder zufällig entstanden sind - der vierte wäre der erste zielgerichtet erarbeitete und auch gerechtfertigte, ein von aller Welt auch als solcher anerkannter.
Das ist noch ein Pro-Argument, listet es vorne dazu - ich nenne es deshalb hier, weil das Gefahren-Potential, wenn diese bisher noch als Damm fungierende Schamstelle wegfällt, ganz enorm ist.
Man merkt es im Umfeld (und mittlerweile hat man als Österreicher, vor allem als Wiener, ein gewachsenes deutsches Umfeld, so viele sind um einen herum): durch einen WM-Titel wie diesen, der aktuell verdient wäre, zudem auch noch eine achtjährige Entwicklung auszeichnet und Deutschland als neu-sympathische Weltmacht abseits kriegslüsterner Alt-Fantasien positionieren würde, drohen ganz viele Kopf-Schalter umgelegt zu werden, die all das weder verkraften noch verwalten werden können.
Das was der DFB kann, schafft die deutsche Mainstream-Gesellschaft nämlich nicht einmal im Ansatz. So wie bisher bei Depression und Burn-Out, Homsexualität, Anti-Rassismus oder anderem Fair-Play-Angelegenheiten haben sich die Fußball-Vorreiter als geselslchaftliche Avantgarde gezeigt - die allerdings kaum Wirkung erzielen konnten. Auch weil die Masse das Gefühl hat durch die Edelmütigkeit ihrer Idole erst recht einen Freibrief für die unterste Schublade ausgestellt bekommen zu haben.
Es droht also das Gegenteil, der GröBaz, der riesenhafteste und abstruseste Ballermann aller Zeiten; also sinnentleerte Enthemmung, die - im Land der Pochers, Raabs und Sarrazine selbstverständlich - sich in ungeahnter Überheblichkeit, gruseliger Selbstüberschätzung und widerlicher Verächtlichmachung von allem und jedem niederschlagen wird. Also auch dem exakten Gegenteil dessen, was die womöglich siegreichen Protagonisten vorleben.
Das ist, wenn man es - etwa von Argentinien aus - als exotisch-fremde, karnevalistisch anmutende Groteske sieht, eh lustig.
Wenn man damit aber als Nachbar leben muss, nicht: denn die Ballermann-Party mit dem Billig-Techno, dem miesen Schlager und der volksdummianischen Sprüche findet ja direkt nebenan statt; und würde dir die nächsten vier Jahre jeden Abend durch die Wand entgegenbrüllen; von der täglichen Dauerbewertung einer primitiv-populistischen Markus-Lanz-Diskussions-Gruppe auf Geiss-Niveau und der zynischen Untertitelung durch die Bild-Zeitung ganz abgesehen.
So gut kann man nicht abdichten, dazu ist Österreich medial schon viel zu sehr angekoppelt.
Letztlich ist das der einzige Grund, warum Deutschland nicht Weltmeister werden sollte; und er mag egoistisch gedacht und außerhalb des Sprachraums irrelevant sein. Die Existenz dieses Problems zu leugnen geht aber auch nicht: es wäre (zwar sehr österreichisch, aber) höchst verlogen, unfair gespielt, also gegen das gerichtet, wofür die deutsche Mannschaft steht.