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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

10. 7. 2014 - 22:22

The daily Blumenau. WM-Journal '14, Eintrag 79.

Klar, es ist noch nicht vorbei - die Frage, was von dieser WM übrig bleiben wird, lässt sich aber dennoch schon jetzt beantworten.

Das ist das WM-Journal '14, die einzige seit Jahren schon live unternommene strategisch-taktische Einschätzung der Matches in Österreich.

Die Gesamtübersicht.

SF1: Brasilien - Deutschland
SF2: Niederlande - Argentinien

VF1: Deutschland - Frankreich
VF2: Brasilien - Kolumbien
VF3: Argentinien - Belgien
VF4: Niederlande - Costa Rica

AF1: Brasilien - Chile
AF2: Kolumbien - Uruguay
AF3: Niederlande - Mexiko
AF4: Costa Rica - Griechenland
AF5: Frankreich - Nigeria
AF6: Deutschland - Algerien
AF7: Argentinien - Schweiz
AF8: Belgien - USA

Das WM-Journal ist Teil des daily blumenau, das seit Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst hat. Mit Items aus diesen Themenfeldern.

The remains of the tournament

Es bleibt ja oft gar nicht so viel übrig von Weltmeisterschaften. Platzierungen sind flüchtig, Erinnrungen trügerisch, Einflüsse werden gern anders zugeordnet.

Deshalb hier ein paar Besonderheiten, weichenstellende, prototypische und auch nur bestehende Tendenzen betonende...
... auch unter spezieller Berücksichtigung österreichischer Verhältnisse.

1. Schnelles Umschaltspiel ist Standard

Das was man hierzulande als letzten Schrei, als Wundertinktur, die man über deutsche, wohl wie Faust mit dem Teufel im Bund stehende Doctores wie Rangnick oder Roger Schmidt importiert, ansieht, ist international längst als basic need installiert. Jede fürs WM-Turnier qualifizierte Mannschaft, von Deutschland bis zum Iran, ist imstande und willens, hoch und scharf zu pressen, aus einer gesicherten aber bei den vordersten Angreifern beginnenden Defensive heraus Bälle zu erobern, entsprechend schnell umzuschalten und wenn möglich aus zwei Chancen ein Tor zu machen. Nicht alle haben das nicht immer praktiziert - aber als Grundbedingung um in ein Spiel zu gehen, in dem man eine Chance haben will, akzeptiert. Und bei dieser WM hatte letztlich jeder gegen jeden eine Chance.

2. Starre Systeme sind nur was für Holländer

... und das ist gar nicht höhnisch gemeint.
Keine einzige Mannschaft der WM blieb in jeder Spielsituation im selben System. Es sieht tendenziell zunehmend aus wie beim American Football: es gibt eine Formation für die Defense und eine für die Offense (mit dem Unterschied, dass dieselben zehn Feldspieler den Job erledigen müssen) und auch immer mehr special teams (vor allem für Standards).
So gut wie jedes Teilnehmer-Team war auch imstande innerhalb des Matches (manche nach einer Einwechslung und Direktiven des Coaches, manche - die noch besseren - auch von selber, quasi nach Spielsituation) Systeme fluid umzustellen.
Die große Ausnahme, das holländische Team, versuchte sich in einer Art postmodernen System-Strategie: Louis Van Gaal wollte mittels Rückgriff auf starre Steinzeit-Thesen die Schwachpunkte der fluiden, zackig umschaltenden Systeme herausfinden, die Gegner an einer Art Dinosaurier-Panzer zerschellen lassen. Die Elftal konnte im entscheidenden Moment aber nicht mehr raus aus der neuen, ganz alten und ungewohnten Rolle und erstickte an der eigens aufgewandten Starrheit; andere werden diesen ersten Feldversuch verfeinern und mehr rausholen können.

3. Die Viererkette ist keine Pflicht mehr

Auch hier setzt sich eine Art Postmoderne durch: Galt die Verwendung der Viererkette bislang immer noch als Symbol für die Überwindung eines lächerlichen Manndecker-Fußballs, ist ihr politicher Gehalt mittlerweile geschrumpft.
Wer eine Dreier- oder Fünfer-Abwehr so spielstark inszeniert wie einige lateinamerikanische Mannschaften (Chile, Mexiko, auch Costa Rica), hat derlei auch gar nicht mehr nötig. Umgekehrt finden sich dann Viererabwehren mit vier Pfosten (wie Deutschland in der Vorrunde).

Das wiederum hat zwei Folgewirkungen:

3a. Die Innenverteidiger sind die neuen Entscheider

Wenn Thiago Silva fehlt, bricht Brasilien auseinander, wenn Pepe ausfällt, zerbröselt Portugal, Belgien lebt von Vincent Kompany, die Frage ob Boateng oder Mertesacker, ist deutlich bedeutender als jede Personalie im Offensiv-Bereich. Mexiko, Chile oder Costa Rica richten sich an ihrer zentralen Abwehr auf, Argentiniens vorher gerne angezweifelte Innenverteidigung bleibt in der K.O.-Phase unbezwungen.

Umgekehrt sind zu junge (Frankreich) oder zu angeranzte (Italien) Innenverteidiger auch Hauptursachen für Fehlleistungen. Spanien etwa brach zusammen, weil das Trio Casillas, Ramos und Pique sich aufgab.

3b. Die Bedeutung der Außenverteidiger wird zurückgefahren

Jahrelang war der neue Außenverteidiger vom Typus pfeilschnell/offensivkräftig der wichtigste Akteur einer modernen Mannschaft - weil seine so gestaltete Doppelrolle (neben den alten Außenpracker-Fähigkeiten dann eben auch die Flügel-Offensive entscheidend anzukurbeln) so wertvoll wie ein zusätzlicher Spieler war.

Es ist kein Zufall, dass die (neben David Alaba) wertvollsten Außenverteidiger der Welt eine eher durchwachsene WM hatten: Dani Alves und Marcelo, Jordi Alba und Coentrao...

Belgien und Holland, Deutschland und Argentinien, die entweder gerade nicht über die nötige Klasse auf dieser Position verfügen können oder zu viele Ausfälle hatten, funktionierten Innenverteidiger oder Angreifer (wie Dirk Kuyt) zu zwar versatilen Außenspielern, aber doch solchen, die die Defensive zuerst denken sollten, um. Dass Vertonghen, Blind, Boateng oder Rojo trotzdem wichtige Impulse setzen konnten, hebt ihre Mannschaften eben heraus.

Außenverteidiger in Fünfer-Reihen hingegen haben eine Aufwertung erhalten - im Gegensatz zu Systemen wie dem 4-4-2 oder dem 4-2-3-1 oder 4-3-3, wo die Außenverteidiger noch einen offensiven Flügel vor sich haben, sind sie in den Systemen von Chile, Mexiko oder Costa Rica oft Alleinherrscher auf ihren Seiten und dementsprechend nassforsch können sie sich in der Offensive bewegen - ihre Absicherung durch den zentralen Mittelfeldmann, der für ihren Raum mitzuständig ist, ist Teil des Plans.

4. Der Sechser emanzipiert sich

Auch diese Debatte der letzten Jahre wurde vor allem in Österreich mit einem dümmlichen Unterton geführt, der seinen Ursprung im alten Ballwegschläger-Denken der Nachkriegs-Ära hat. International war der spielaufbauende Sechser, der Mann vor der Abwehr, immer schon ein wichtiger Faktor: während er im deutschsprachigen Bereich in erster Linie aufräumen sollte, war er anderswo der Inszenator für den Gegenstoß. Ich darf an die große argentinische Tradition (Stichwort Redondo, auch Almeyda) erinnern, und Spanien (z.B. Guardiola), Frankreich (Fernandez, Vieira) oder Italien (Albertini) und Deutschland (Bernd Schuster) hervorheben.

Mittlerweile ist alles möglich. Vor allem die durch Pep Guardiola inszenierte Entwicklung bei Bayern München, wo er so unterschiedliche Typen wie Lahm, Schweinsteiger, Kroos, Thiago Alcantara oder Javi Martinez auf eine scheinbar monochrom zu lesende Position setzte, hat durchgeschlagen. Joachim Löws (letztlich misslungener) Versuch mit Lahm hinter zwei Hybrid-Sechsern war eine Folge.
Wie die Franzosen (mit Cabaye oder Pogba) oder die Belgier (mit Witsel und Fellaini) die Aufgabe lösen, wie Brasilien am fehlenden Management der Doppel-Sechs erkrankte, wie Chile, Mexiko oder Kolumbien aus der Unterschiedlichkeit ihrer Spielertyen Kapital gezogen haben, war nicht nur interessant anzusehen - es zeigt auch, dass es keine allgemeingültige Lesart für diese Position geben kann. Ganz wie es für jede andere Mittelfeld-Position schon seit Jahren üblich ist. Die Sechser haben jetzt, recht spät, so nachgezogen, dass es auch die österreichischen Trainer gemerkt haben könnten.

5. Nicht nur Europa hat grandiose Torleute

Ein populärer Mythos ist endgültig geplatzt: die mehr als auffällige Leistungsdichte der südamerikanischen Torhüter und der vergleichsweise Abfall der Europäer, die bislang im kollektiven Fußballgedächtnis als unangreifbar die weltbesten Keeper gehandelt werden - hier hat ein weiterer Anpassungs-Schritt zwischen Realität und Mythos stattgefunden.

Die Leistungen von Bravo (Chile), Ochoa (Mexiko), Navas (Costa Rica), auch Ospina (Kolumbien) und selbstverständlich die von Romero, der von den Schein-Experten immer als argentinische Schwachstelle auserkoren wurde, waren zu nachdrücklich. Dazu waren mit Enyeama oder Howard auch andere außereuropäische Torleute auffallend auffällig.
Casillas, Joe Hart und auch Buffon sahen eher alt aus. Lloris blieb unter, Courtois exakt auf den (allerdings sehr hohen) Erwartungen. Nur Manuel Neuer, der natürlich allerbeste, hält die europäische Fahne wirklich hoch.

Diese kleine Aufzählung findet wohl noch eine Fortsetzung.

Die lächerlichen Exotismen, die bei jeder WM - vor allem via Medien, Fans und vor allem Experten - gruselige Urständ' feierten, mussten sich diesmal an Schiedsrichtern festhaken - auch das grundlos, auch hier kamen die zentralen Schwachleistungen von Europäern. Wieder eine Zone der paternalistisch verbrämten, aber rassistisch gemeinten Verhöhnung, die einer diesbezüglich leicht zu erwischenden, in ihren zuschreibenden Voreinstellungen eben latent protorassistischen Basis wegbricht.