Erstellt am: 5. 7. 2014 - 17:24 Uhr
Der Batman von Rio
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Für einen Superhelden ist Eron Morais Melo ziemlich bodenständig. Er wohnt in einem Stadtviertel von Rio de Janeiro, das eine Stunde vom Hauptbahnhof entfernt liegt. Gegenüber seines kleinen Hauses befindet sich eine öffentliche Schule, in der Nähe ein Krankenhaus. Im Arbeitszimmer riecht es nach Chemikalien, auf dem Tisch liegen künstliche Gebisse aus Gips. "Das ganz normale Leben eines Mannes der Mittelschicht", sagt Eron. Wirklich stimmen tut das nicht.
Hanna Silbermayr
Zwei Wochen zuvor steht in der Innenstadt von Rio de Janeiro der Verkehr still. Kein Auto schafft es mehr durch die Avenida Rio Branco, eine der Hauptstraßen im Stadtzentrum. Wie aufgefädelt stehen die öffentlichen Busse am Straßenrand, blockiert von hunderten Demonstranten, die daran vorbeiziehen und Transparente in die Luft halten. Der Inhalt ihrer Parolen: "FIFA geh heim, wir wollen Bildung und Gesundheit, keine Weltmeisterschaft."
Es ist der erste Spieltag der Fußball-WM und während am Himmel dunkle Militärhubschrauber kreisen, begleiten grimmig dreinblickende Polizisten in Kampfmontur den Protest am Boden. Auch Eron Morais Melo ist gekommen. Doch heute ist er nicht Eron, heute ist er der Superheld, Batman. Hoch über den Köpfen der Menschen spaziert er über das Dach eines Busses, sein schwarzer Umhang flattert dabei fröhlich im Wind. Medienwirksam inszeniert er sich für die Presse, posiert bereitwillig für Fotos und hält eine dicht beschriebene Tafel in die Kameras der Journalisten. Man merkt, dass Eron Übung in seinem Schauspiel hat, dass es nicht der erste Protest ist, bei dem er auftritt.
Hanna Silbermayr
"Das ist meine Art, die Aufmerksamkeit auf Missstände zu lenken", erklärt Eron zu Hause. Geduldig knetet er keramikweiße Paste zwischen seinen Fingern. Von Beruf ist der 33-Jährige eigentlich Zahntechniker, nimmt Aufträge verschiedener Ärzte der Umgebung an und bastelt Zahnprothesen für deren Patienten. Von irgendetwas müsse man leben, sagt er. Batman-Sein alleine reiche nicht. Vor einem Jahr, als Brasilien die größten Proteste seit Ende der Militärdiktatur erlebte, schlüpfte Eron zum ersten Mal in sein Fledermaus-Kostüm. Hunderttausende Menschen gingen damals in Rio de Janeiro auf die Straße, um gegen die ausufernde Korruption, die steigenden Lebenshaltungskosten und die Milliardenausgaben für die Fußball-WM zu demonstrieren. Eron Morais Melo war von Anfang an als Batman mit dabei.
Eigentlich war Politik in seiner Jugend kaum Thema, in der Familie sprach man nur selten darüber. Und trotzdem machte er sich schon früh Gedanken. Er konnte nicht verstehen, weshalb niemand etwas gegen die großen Ungerechtigkeiten im Land unternahm. "Die Brasilianer waren teilnahmslos und passiv, vielleicht hatten sie auch resigniert", sagt er. Eron selbst stammt aus einem religiös geprägten Elternhaus, ist mit den christlichen Werten der Nächstenliebe aufgewachsen. Er ist überzeugt: Das habe seine Haltung geprägt. Früher hätte er deshalb auch Pastor werden wollen, um zu helfen. Aber Pfarrer habe es in Rio de Janeiro schon zu viele gegeben. "Also habe ich beschlossen, Batman zu sein", sagt Eron mit einem verschmitzten Lachen im Gesicht.
Hanna Silbermayr
Im Raum neben dem Arbeitszimmer bewahrt er die dafür notwendigen Requisiten auf: sieben schwarzgrau bemalte T-Shirts, fünf hautenge Leggings, zwei Boxershorts, ein Paar Handschuhe. Daneben hängen die Maske und der lange Umhang auf einem Kleiderständer. Jedes einzelne Teil hat er selbst gemacht, nur die Maske bekam er von einem Freund geschenkt. "Die Verkörperung Batmans ist für mich eine Art sozialer Auftrag", sagt er. Auch wenn alles wie ein wahr gewordener Kindertraum wirkt, nimmt Eron sein Alter Ego ernst. Denn als im Juni 2013 die Proteste begannen, wollte er ein klares Statement setzen. Und kein anderer Superheld seiner Kindheit eignete sich dafür besser als Batman.
"Seine Geschichte hat Ähnlichkeiten mit unserer Situation", erklärt er. Rio de Janeiro wäre wie die fiktive Stadt Gotham, voller Korruption und Gewalt. Und der Batman im Comic setzt sich für Gerechtigkeit ein, so wie Eron unter seinem Fledermaus-Kostüm. "Zu Beginn war Batman eigentlich eine Strategie des Bürgers Eron Morais Melo", sagt er. Die Menschen wären auf ihn zugekommen, hätten gefragt, warum gerade Batman, und so konnte er es ihnen erklären. Mit der Zeit aber verwandelte sich der Superheld aus dem Comic in einen Superheld der Proteste von Rio de Janeiro. Erons Batman wurde zu einer Symbolfigur lanciert, die mitunter auch die Titelseiten größerer Zeitungen schmückte.
Hanna Silbermayr
Seinen neu erlangten Ruhm versucht er für die gute Sache einzusetzen. Anfang des Jahres besuchte Batman ein Elendsviertel, um auf Zwangsräumungen aufmerksam zu machen. Doch so viel Arbeit wie in den Monaten zuvor hat er nicht mehr. Während der Weltmeisterschaft sind die Proteste abgeflaut. Zwar treffen sich immer noch regelmäßig Menschen zum demonstrieren, mehr als ein paar hundert sind es aber selten. "Wir Brasilianer sind einfach verrückt nach Fußball. Wenn unser Team spielt, geht außer zum Feiern niemand auf die Straße", sagt Eron.
Hanna Silbermayr
Insgeheim wünscht er sich, dass Brasilien vor dem Finale ausscheidet. Denn dann wäre das brasilianische Volk wütend, würde zur Realität zurückfinden und sich wieder für seine Rechte einsetzen. Was genau passieren wird, kann niemand vorhersagen. Eines ist aber gewiss: Batman ist vorbereitet. Auf seinen nächsten großen Auftritt und darauf, Brasilien zu retten.