Erstellt am: 5. 7. 2014 - 10:54 Uhr
The daily Blumenau. WM-Journal '14, Eintrag 73.
Das ist das WM-Journal '14, die einzige seit Jahren in Echtzeit unternommene strategisch-taktische Einschätzung der Matches in Österreich.
Das WM-Journal ist Teil des daily blumenau, das seit Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst hat. Mit Items aus diesen Themenfeldern.
Es ist keine ernsthafte Fraktur und benötigt auch keine schwierige Behandlung. Aber: Neymar fällt einige Wochen aus: der dritte Lendenwirbel ist gebrochen.
Nein, es war kein bösartiger Killer, der den brasilianischen Spielmacher bewusst gekillt hat; es passierte eher nebenbei in einem völlig normalen Zweikampf in der Schlussphase des gestrigen Viertelfinales, als auch Neymar schon längst in der Abwehr Platz nehmen musste, um den Vorsprung gegen das anrennende Kolumbien zu verteidigen, und als Ballblocker gegen den anspringenden Zuniga unterwegs war.
Und, nein, Neymar war kein Opfer von viel zu hart knüppelnden Gegnern, die mit bewusster Härte das filigrane brasilianische Spiel zerstören wollten. Es war Brasilien selber dass die Gangart - als Teil des Matchplans - hochgeschraubt hatte. Deswegen klingen Luiz Felipe Scolaris Vorwürfe auch so absurd: der Schiedsrichter hätte "unser gewaltsames Spiel unterbinden müssen" und somit auch das des Gegners, dann wär's vielleicht nicht dazu gekommen.
Natürlich ist derjenige, der hartes Einsteigen als Konzept in ein Spiel einbringt, um so einen spielerisch womöglich besseren Gegner zu verunsichern, verantwortlich für das, was daraus ensteht. Also der große Felipão selber.
Er muss nun mit diesem Verlust fürs Halbfinale und das mögliche Finale leben. Nur der Ausfall von Messi würde eine Nationalmannschaft noch härter treffen. Argentinien ist komplett auf Messi ausgerichtet. Brasilien sehr sehr stark auf Neymar. Allerdings nicht komplett; darin liegt die Chance.
Neymar hat die offenste Joker-Rolle in der offensiven Dreierreihe des brasilianischen 4-2-3-1. Manchmal besetzt er (zumindest nominell) eine Seite (beim Confed Cup im Vorjahr war es die linke), gestern etwa wurde darauf verzichtet - da kam Hulk über links (wohl auch aus taktischen Gründen, Scolari hatte Zuniga als Schwachstelle ausgemacht, jenen Zuniga, der schließlich das Neymar-Foul beging). Weil Scolari unbedingt und immer den zurückhaltenden Auch-Spielmacher Oscar neben/hinter Neymar stellt, muss Brasilien einen Offensiv-Flügel unbesetzt lassen. Das kann eine Stärke sein, sich aber auch zur Schwäche wandeln - z.B. wenn der in die Lücke stoßende Außenverteidiger defensivschwach ist.
Durch Neymars Ausfall fällt dieses Opfer weg. Brasilien könnte ein symmetrisches Flügelspiel aufziehen, z.B. mit Hulk und Bernard. Dafür müsste Oscar aus seiner Rolle als Schattenmann heraustreten und seine Zehner-Qualitäten ausspielen; können - auch im Nationalteam - tut er das. Ich halte das für wahrscheinlicher als Neymar in seiner Position, etwa durch Hernanes zu ersetzen.
Es gibt aber auch eine Variante, die Scolari deshalb zuzutrauen ist, weil er Kolumbien ja mit deren ureigensten Mitteln bekämpft hatte. Das könnte er auch Deutschland antun - mit einer Version der Löw-WM-Variante, einem 4-3-3. Also einer Mittelfeldreihe mit Luiz Gustavo als Sechser, Paulinho und sagen wir Ramires als Hybrid-Achter davon. Und einem Dreier-Angriff mit allen Freiheiten, der dann wohl eh wieder Oscar-Fred-Hulk lauten würde.
Im übrigen ist der Ausfall von Thiago Silva durch seine Dödel-Sperre fast noch problematischer. Ihn durch Dante zu ersetzen, den die meisten deutschen Spieler aus dem Bayern-Training kennen, würde ein echtes Risiko in sich bergen. Dann doch Henrique? Fehlt jetzt Marquinhos?
Neymars Ausfall gibt Brasilien vor dem Deutschland-Spiel die einzigartige Chance, aus dem dichtmaschigen Überwachungsnetz rauszuschlüpfen. Das Camp Löw, die Armee aus Analysten, Datenauswertern und Taktikzurechtlegern, hat sich bereits seit Monaten mit Brasilien beschäftigt - immer mit der Prämisse Neymar. Für ein Spiel ohne den Star haben sie, I bet, keine wirkliche Idee. Und jetzt, wo Scolari viele Stunden Zeit hat, sich etwas zu überlegen, gehen die Jogi-Fingernägel viel schneller in Richtung Zähne, als es mit einem fitten Neymar der Fall gewesen wäre. Die Ungewissheit was jetzt passiert, ist ein schlechter Einflussnehmer. Und sie kann Löw durchaus zu einem Matchplan wie dem gegen Italien im Halbfinale 2012 führen.
Die Neymar-Krise ist also eine Chance. Für einen strategischen Ausbruch aus dem taktischen Korsett, das Scolari überstreifen muss, wenn er seinen Superstar dabei hat. Er wird sich etwas Interessantes ausdenken; ich bin sicher. Er sollte nur, wenn es auch diesmal wieder Konsequenzen hat, noch etwas mutiger dazu stehen.