Erstellt am: 6. 7. 2014 - 14:00 Uhr
"Charismaradiergummi!"
Weiterlesen
- Alle Texte des diesjährigen Bachmannpreis-Lesens und alle Lesungen als Videos zum Nachschauen von Versäumten.
- Der Bachmannpreis auf FM4
"Hund", "Hund", "Hund"! Das Kästchen des Bachmann-Bingos ist schon ausgemalt wie jenes mit dem Wort "Sex". Aber auch Mütter waren Tendenzen beim Bachmannpreis-Lesen. Tendenzen, die es ja eigentlich gar nicht geben kann, weil vorab ja keine Themen für Geschichten an die AutorInnen ausgegeben werden.
Bis Samstagvormittag war kein eindeutiger Favorit auszumachen. Heute Vormittag ging der Ingeborg-Bachmann-Preis, mit 25.000 Euro dotiert, an Tex Rubinowitz für "Wir waren niemals hier".
Johannes Puch/ORF Kärnten
Wer hat denn nun wen ins Lesen geschickt?
Die Wiener Literaturkritikerin und Jurorin Daniela Strigl hat Tex Rubinowitz nach Klagenfurt eingeladen.
Michael Fehr, zum Bachmannpreis-Lesen eingeladen von Neo-Juror Juri Steiner, erhält den Kelag-Preis in der Höhe von 10.000 Euro.
Der 3sat-Preis geht an Senthuran Varatharajah, eingeladen von Meike Feßmann, und den Ernst Willner-Preis bekommt Katharina Gericke, eingeladen von Burkhard Spinnen, und Gertraud Klemm für "Ujjayi", eingeladen von Hubert Winkels, wird mit dem Publikumspreis bedacht. Der Moderator ist so aufgeregt wie ich nach den spannenden Stichwahlen, er schenkt Klemm einen neuen Vornamen.
Literaturkritik, automatisch
Die eingeschworene Bande hinter der Automatischen Literaturkritik um Kathrin Passig und Angela Leinen sichert sich während der Tage der deutschsprachigen Literatur täglich ein Kaffeehaustischchen nahe am Public Viewing-Flachbildfernseher im Lendhafen, bläst Schwimmtiere für MitschwimmerInnen auf und organisiert sich ein eigenes Rahmenprogramm, bei dem man sich selbst gleich mitfeiert. Durchaus legitim, angesichts der Tatsache, dass die Crowdfunding-Aktion für den diesjährigen "Automatische Literaturkritik-Preis" über 5.000 Euro einbrachte: ausgezeichnet wird Michael Fehr für Auszüge aus "Simeliberg". Es war schließlich der Gebrauch von Schusswaffen im Text, juristisch korrekt: nicht als Waffe zum Einsatz gekommen, wie die Juristin und Kritikerin Angela Leinen weiß, mit der Fehr die meisten Punkte kassierte.
Radio FM4
Mit zurückhaltend sympathischer Art und Cleverness begleiten Kathrin Passig und Angela Leinen den offiziellen Bewerb nun seit Jahren mit kritischen wie charmanten Aktivitäten in Eigenregie. Man könnte die Automatische Literaturkritik als kleine Störaktion im Literaturbetrieb verstehen.
Radio FM4
Radio FM4
Startklar
Am Samstagmorgen kommt mir eine joggende Autorin auf dem kleinen Kieselsteinweg (Ziel: See) neben dem Radweg (Ziel: ORF Landesstudio) entgegen. Tex Rubinowitz steht bereits startklar vor dem ORF-Landesstudio und das, obwohl er am Vorabend im Lendhafen aufgelegt hat. Singles mit Songs aus den Sechziger Jahren, entdeckt hat er die Musik in den Filmen von David Lynch, jetzt ordert er die Singles aus den USA. Raritäten kosten schon mal achtzig Euro, die Interpretin kennt man trotzdem nicht, aber sehr schön klingt das.
Radio FM4 | Maria Motter
"Guten Morgen", wünscht Tex Rubinowitz vor seiner Wettbewerbslesung allen, erklärt Facebook in seinen ersten Sätzen zum Wartesaal für Idioten. Mir hat er erklärt, dass die Einladung nach Klagenfurt für ihn, der schon all die Jahre als Beobachter bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur vor Ort ist, "eine große Ehre" ist.
Mit Eulen-Dokus, Batterien-Lutschen, Selbsttätowierung und dem kleinen, sehr feinen Detail, dass in dieser Geschichte mit dem Titel "Wir waren niemals hier" der Ich-Erzähler seine Freundin bei sich kommentarlos einziehen lässt, um sich nicht die Blöße der Überrumpelung zu geben, ist der Tex-Text so hip und spielt doch überwiegend in Zeiten der Liebe vor den Hipstern. Doch unter der durchaus lässigen Oberfläche tut sich eine Un-Beziehung auf.
"Mit Lässigkeit und großer Zärtlichkeit" erzähle Tex Rubinowitz "von einem jugendlichen Leben im Wartesaal, das nie in der Gegenwart ankommt", da stimme ich Jurorin Daniela Strigl zu. Der Ich-Erzähler und seine Freundin sind beide nur dann glücklich, wenn sie zusammen schlafen, aber nicht miteinander - das ist tatsächlich "ein komplexes Verhältnis", wie Daniela Strigl feststellt. Liebe werde hier ohne Bedeutungsschwere verhandelt, findet Arno Dusini. Kritik gibt es für den Lesestil: Derart "scheußlich gelesen, was schon fast wieder gut war", habe Rubinowitz. "Kongenial gelesen", kontert Strigl. Und hatte schließlich das letzte Wort für ihren siegreichen Kandidaten.
Radio FM4
Wer hat die schlimmere Kindheit?
Die persönliche Herkunftsgeschichte zweier junger Migranten verbindet Senthuran Varatharajah in "Vor der Zunahme der Zeichen" zu einer virtuellen Freundschaft. Meine Konzentration aber nimmt ab, ist an ihrem Tiefpunkt und wird erst durch Michael Fehrs Vortrag wieder erweckt. So geräuschlos wie möglich wird im Presseraum in Klagenfurt umgeblättert. Michael Fehr rezitiert gleich mehrere Romanauszüge im Gehen und hat einen Kopfhörer auf einem Ohr.
Die Jury "umarmt diesen Textköper", so Juror Winkels, spricht über Re-Oralisierung in unserer Zeit und ist höchst angetan von der Geschichte, die als "zeitgenössisches Schweizer Bauerntheater" (Strigl) gelesen wird und gut paranoid ist. "Durch und durch reflektierte Prosa", lobt Meike Feßmann, Scham und Schande kämen zur Sprache wie Referenzen an Jacques Derrida und Roland Barthes u.v.a. mehr.
Von Hegel lernen
Mit Senthuran Varatharajahs Beitrag beschäftigt sich die Jury schon nach dessen Lesung ausführlich. Als habe jemand Deutsch auf einer einsamen Insel anhand der Lektüre von Hegel gelernt, konstatiert Burkhard Spinnen der Sprache der Protagonisten Varatharajahs. Arno Dusini gefällt gerade das. Eine kleine, gar nicht freundliche Grußbotschaft baut der Neo-Juror an seine Studierenden in Wien in seine Kritik ein. Weil immerhin ist er Professor in Wien und entblödet sich nicht, das eigens zu erwähnen. Hegeliger und metaphysischer könnten seine Studierenden demnach schreiben.
"Religions-philosophisch interessant" und für Facebook, wohin der Autor seinen Text verortet, "atypisch", freut sich Keller. Als ZuschauerIn erfährt man, dass Strigl keine aktive Facebook-Nutzerin ist, aber doch weiß: so schreibt man nicht in Facebook. Sie ist vom "Ton der Erhabenheit" in dieser Biographienerzählungsgeschichte wenig beeindruckt.
Nicht unter den SiegerInnen sind die Grazer AutorInnen Birgit Pölzl, Olga Flor und Georg Petz.
Der Tod ihrer Tochter beherrscht die Gedanken einer Frau auf Reisen in "Maia". Zurückhaltend reagierte die Jury auf die Geschichte der Grazerin Birgit Pölzl. "Da hat der Herbert das Kind überfahren und du fährst mal nach Tibet", kurz gefasst präsentiert sich der Inhalt für Burkhard Spinnen.
Großes hatte Georg Petz vor, Männer, Körper und Macht, dazu zwei Weltkriege und die als Referenzräume zum Wettkampf zweier junger Männer um eine Frau. Der Grazer Autor Petz neige zu Literarisierung, befindet Jurorin und freie Literaturkritikerin Meike Feßmann und meint es in diesem Fall nicht positiv. Auch, wenn es vom Autor gewollt wäre: zu viele Metaphern wären zu viel. Arno Dusini könnte eine Anthologie von Liebesakten und Tourismus-Schlachtfeldern anlegen, einzig zu Referenzen in diesjährigen Wettbewerbstexten. Die Kamera ist gnädig und bringt die AutorInnen während der Jury-Diskussionen kein einziges Mal ins Bild.
Radio FM4 | Maria Motter
Frauen am Rande des Auszuckens
Die Jurydiskussionen werden im Laufe des zweiten Lesetages immer länger, bis 3Sat die Live-Übertragung abdreht, während noch über Romana Ganzonis Vortragsstil verhandelt wird. Anlass: Die Autorin habe diese Figur "so kaputt gelesen, wie man es überhaupt nur machen kann", rügt Burkhard Spinnen. Das Subjekt, das Prädikat und auch noch das Objekt habe die Autorin "gefeiert". Wie bei Michael Fehr entwickelt sich eine Debatte über den Vortrag. Und der Text? Bruna heißt die Protagonistin in Romana Ganzonis "Ignis Cool". Die Figur mit dem "Kuhnamen" - wie Hildegard E. Keller hervorhebt - kommt nicht vom Stand, obwohl sie in einem Auto sitzt, und will "das Böse aus sich herauskratzen. Wir wissen ja: Böse Außenseiterinnen sind meist böse, weil man zu ihnen böse war", so Strigl. Wirklich böse wird es aber nicht, für Meike Feßmann ist es dennoch eine "abgründige Mutter-Tochter-Geschichte".
Lang lebe das Off-Theater
"Wieder eine Geschichte, wo eine gebrochene Frau über den Fußboden robbt", befürchtet Daniela Strigl bei den ersten Zeilen von Katharina Gerickes Text "Down Down Down - To The Queen Of Chinatown". Doch es kommt anders: Der Text der Berliner Dramaturgin und Autorin wird schon während der Lesung vom Saalpublikum mit Kichern an einigen Passagen goutiert - und dann von der Jury derart euphorisch aufgenommen, dass es Meike Feßmann zu viel wird. Es würde dem Text nicht gerecht, ihn so zu pushen. Doch "Jamben, die einen durch den Text treiben", so Strigl, und "die romantische Ironie", erkennbar in der Brüchigkeit der Rhythmisierung, so Spinnen, punkten. Das kleine Off-Theater, das Katharina Gericke in Berlin-Moabit aufbaut, wird wohl gestürmt werden. Mir ist der Text zu Kettcar, doch das mag an den Opern-Referenzen liegen und der angeblichen "Unlebbarkeit von Liebe", um die es geht. Und natürlich ist da der Hund, "der heftig mit dem Ende wackelt".
Johannes Puch/ORF Kärnten
Alles will verortet werden
Schön, wenn das Publikum so gebildet ist, befindet samstags Jurorin Daniela Strigl. In den Diskussionen der Jury - die an die Lesungen anschließen - will und kann wohl nicht alles aufgelöst werden, nicht alle Referenzen zugeordnet werden und nicht alle möglichen Verweise gezogen werden. Indes wird ein Aphorismus Kafkas erkannt. Wieder mal Kafka lesen?
Radio FM4
Niemand dürfe hier eine Institution werden, und er auch nicht, sagt Burkhard Spinnen am Ende der diesjährigen Preisverleihung und nimmt den Hut und verlässt die Jury des Bachmann-Preises mit Dank an alle. "Tschüß!"