Erstellt am: 4. 7. 2014 - 12:24 Uhr
Kein Kuschelkurs
38. Tage der deutschsprachigen Literatur vulgo Bachmannpreis 2014, noch bis Sonntag in Klagenfurt
Der Lektor habe gekämpft wie ein Löwe, doch die technischen Möglichkeiten des Videostreams hin oder her: Nach Klagenfurt muss man persönlich kommen und seinen Text selber lesen. Das sehen die Richtlinien für den Bachmann-Preis vor. Karen Köhler hat Windpocken und die im Gesicht mit Salbe weiß markierten zeigt die Hamburgerin in einem Videogruß.
Somit lesen dieses Jahr 13 AutorInnen um den mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis. 25.000 ZuschauerInnen sind via Endgeräten dabei, zur Eröffnung fragte 3-SAT-Leiterin Petra Gruber vor der silber-glänzenden Studiodeko mit Dinosaurier-Reliefs: Wie existiert etwas, das es in der üblichen medialen Landschaft nicht gibt?
Doch es geht nicht allein um das Lesen im Fernsehen, für das Vergnügen ist auch die Jury mit ihrem Wissen und Interpretationswillen verantwortlich. Neu dabei: Arno Dusini, der den Platz von Paul Jandl einnimmt, der wiederum nicht mehr dabei ist. Am gestrigen ersten Lesetag hat man ihn durchaus vermisst.
APA/GERT EGGENBERGER
Keine Neuerungen indes bei den Videoporträts der antretenden AutorInnen, die jeder Lesung vorangestellt werden, ein verlässlicher Funfact. Soap & Skin ist in Roman Marchels Video zu hören, mit der Nennung seines Wohnorts "Waldviertel" beginnt das Bachmann-Bingo: Punkt!
Haneke lässt grüßen
In "Die fröhlichen Pferde von Chauvet" von Marchel ermordet eine mit der Pflege ihres Ehemannes überforderte Frau ebendiesen. Haneke grüßt, denkt man, und Daniela Strigl konkretisiert: "L'amour auf Alpenländisch", doch das dürfe man schon machen. Insgesamt nimmt die Jury die eigentlich gar nicht fröhlichen Pferde wohlwollend auf. "Als Lektor würde ich jetzt einen Riesenstreit vom Zaun brechen", sagt Burkhard Spinnen an einer Stelle, der Riesenstreit bleibt aus.
Wolken - Bachmann-Bingo-Punkt! - im nächsten Videoporträt! Weniger Freude ruft Kerstin Preiwuß mit ihrem unbetitelten Text bei der Jury hervor. Trotz Elfenfotografien, der sehr intensiven Schilderungen des Vorgehens auf einer Nerz-"Farm" und - ja, Preiwuß hat gar viel in ihre Geschichte hineingepackt. Mit einer Hypothek sei der Text befrachtet, formuliert es Daniela Strigl, der Nerz-Töter trägt sein NS-Trauma in die Familie.
"Hallo Burkhard, ich bin der literarische Nerz - Hallo, ich kenne Dich"
Wenn Burkhard Spinnen ein textlicher Nerz entgegenkomme, müsse er ihm schon Neues erzählen. Man lernt: Der Nerz ist also ein beliebtes Tier in der Literatur, zumindest hatte Alice Munros Vater eine Silberfuchs-"Farm". Ich hege Sympathien für den ersten Teil der Geschichte, ein Herz für Fähen! Für die Jury spricht, dass sie keine PETA-ist-böse-Debatte beginnt, dass Tiere im Text vergast werden sei jedoch zu "plakativ". Dusini lobt die sehr gut aufgebaute Erzählung, hat aber "schwere Bedenken, bei all dem, was dieser Text kann" und erklärt Perspektiven.
"Es ist klar, dass sich hier die Faschismus-Metaphern gegenseitig auf die Zehen steigen," so Strigl und Metaphern. Ui. Für Hildegard E. Keller ist diese Geschichte, in denen es Tieren wie Menschen an die Krägen geht "zu blutarm". Die Autorin streckt unmittelbar danach die Beine im Garten vor dem ORF-Landesstudio Kärnten aus, der Verlag schmollt für sie. Respekt für das Thema "Pelztierfarm" und danke für ein neues Wort: "Quaddel" war mir nicht bekannt. Mit "Mollusk" lernen alle Nicht-Zoologen bald ein Wort dazu.
Johannes Puch/ORF Kärnten
Church of Strigl
Der Kopierer arbeitet im Vorstellungsclip zu Tobias Sommer, der schreibt und in einem Finanzamt arbeitet. Er sei also "ein Finanzmann" und "Steuerstrafakte (Inhalt: Leviathan)" ist dann auch Titel und Programm seines Textes. Es ist ein Literaturselfie. "Was ist in diesem Steueramt los?" fragt Juri Steiner, und Hubert Winkels antwortet: "Der Sherlock-Holmes-Philologe sagt: Das ist ein krypto-philosophisches Spiel." Mit Hegel erklärt, könne man es auch Rollentausch nennen, wirft Daniela Strigl ein, warum könne man bei Kafka lachen und hier nicht. Kafka gibt keinen Bachmann-Bingo-Punkt, schade. Die Anhängerschaft von Strigl ist ein Fanblock in Klagenfurt, von Strigl-Fähnchen ist die Rede, produziert zwar noch nicht, doch gefordert und rhetorisch geordert. Ich will zwei.
Johannes Puch/ORF Kärnten
Dabei ist das Preislesen als ZuschauerIn vor Ort mit Zuschauen, Hören, den im Landesstudio ausgeteilten Text mitlesen, zugleich zu Twitter äugen und die Reaktionen anwesender Branchenangehöriger verfolgen ohnehin eine Aufmerksamkeitseuphorie. Im Lendhafen, wo traditionell ein Public-Viewing des Preis-Lesens stattfindet, ist die Konzentration trotz Vogelgezwitschers und Kaffeehausstimmung höher, die Steckdosendichte niedriger.
Radio FM4 / Maria Motter
Erich Möchel blickt schon weiter: Das TISA-Abkommen steht hierarchisch über TTIP.
Der See ist außer Sicht
Das Studio-Make-up der KandidatInnnen und JurorInnen macht sich im sonnigen Tageslicht erstaunlich gut. Noch unbekannte Menschen lächeln sich zu. Das TTIP- und Amazon bewegen die Gemüter seit dem Eröffnungsabend. Doch mit Verweisen auf aktuelle Berichterstattung ist Smalltalk schnell beendet, zu eins ist man in der Empörung. Schnellleserinnen - und das selbst vor Publikum und laut lesend - wie die Autorinnen Gertraud Klemm und Olga Flor ist es zuzutrauen, dass sie neben Empfängen und Vorbereitung noch aktuelle Gastkommentare zum Thema wahrgenommen zu haben.
Sogenannte Schreibabys und radikale Banalität
Ein Schreibaby, ein sogenanntes, treibt eine studierte Frau in der ungewollten Verlängerung der Karenz an ihre Grenzen in Getraud Klemms "Ujjayi". Im Chinarestaurant mit Verwandtschaft zerbröselt nicht allein das Nervkind gebackene "Nananen", es zerbröselt das Selbstbild. Die gebürtige Wienerin trägt die Wut des Textes in ihre atemlose Lesung.
"Dieses Muttergefängnis wird zum Gefängnis für die Frau", attestiert Dusini, es sei eine Apokalypse des individuellen Lebens, und Juri Steiner äußert, er wolle nun kein Kind mehr. Auch Burkhard Spinnen hat der Text "unangenehm berührt". Daniela Strigl bringt einem bei, dass das Wort banal auch etwas Tolles bedeuten kann. "Das Wort banal ist schon gefallen. Der Text ist radikal banal", und die Wiener Jurorin ist "glücklich mit solchen Texten". Dass eine Frau derartige Unlust äußere an der Kinderziehung sei eventuell für manche ein Problem, gibt Strigl zu bedenken. Tja, für Backlash kann Klemm nichts. Aber dafür, dass die "Vagina sich zusammenzieht wie ein beleidigter Mollusk", weil das schrieb sie ihrer Protagonistin auf deren Leib.
Johannes Puch/ORF Kärnten
Ein bisschen explizit
Mehr Verliebtheit hat die Grazerin Olga Flor für ihre zweite Teilnahme am Bachmann-Preis-Lesen im Gepäck. Das Warnschild "Quetschgefahr durch Fahrregale" taucht im Vorstellungsclip auf, Olga Flor inmitten großer Hirschpräparate im Depot der zoologischen Sammlung des Joanneums. In Flors "Unter Platanen" begegnet eine verheiratete Forscherin mit Familie auf einem Kongress wieder einer Affäre. Es folgen Erinnerungen an Analsex.
Es ist ein Auszug aus einem Roman, wie viele der vorgetragenen Texte, und in der anschließenden Diskussion erfährt man, dass Platanen ein Symbol für Erneuerung sind.
Doch Dusini regt das auf. Er schätze Olga Flor, doch das sei "Wohlstandsprosa".
Die Texte beim Bachmann-Preis müssten sich nicht nur mit der Jury, sondern mit der ganzen Literatur messen, die vorausgeht. Sagt Dusini, es klingt fast erbost. Ob ein französisch-österreichischer Arschfick Literatur mache, sei ihm noch nicht klar. Damit wäre man unter der Gürtellinie gelandet, findet Daniela Strigl. Doch da spielen ja einige Passagen, nicht unter Platanen.
Radio FM4 | Maria Motter
Abseits und doch mitten dabei wird auch der Preis der Automatischen Literaturkritik sein, für den man miteinzahlen konnte, doch nun hat die Crowdfundig-Seite das Funden frühzeitig beendet. Was die Automatische Literaturkritik kann und ist, wird Zita Bereuter on air erklären.
Kein Kuschelkurs
Unter Bäumen und am Lendhafen hat die "Soli-Lesung" stattgefunden. "Soli-Lesung" ist ein großes Wort. Karen Köhler muss wegen einem Klassiker an Kinderkrankheit dem Bewerb fern- und unter Quarantäne bleiben. Juror Hubert Winkels und andere stellen Köhlers Text vor.
Der zweite Lesetag beginnt mit der deutschen Autorin Anne-Kathrin Heier und einem Dexter-Text. Aus dem Businesskostüm geht es nicht glatt in die Serienmörderlaufbahn in der Großstadt. Es läge eine Pseudogenauigkeit vor, findet Daniela Strigl, ein "gefundenes Fressen" für GermanistInnen. "Als wäre das Ich durch die Schreibschule gegangen und würde sich widersetzen".
Plötzlich sind alle Juroren aufgeregt, Hubert Winkels mahnt Arno Dusini, so nicht, sonst geht er. Wenig später mahnt Dusini, Autor und Text dürfe man nicht gleichsetzen. Das letzte Wort hat wie dieses Jahr bemerkenswert oft Hildegard E. Keller: Das Bachmann-Preis-Lesen sei kein Kuschelkurs. Jetzt noch schöner mit #BachmannBingo!