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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

7. 7. 2014 - 14:57

Ansichten eines alten Kamels

Michael Stauffer legt einen verstörenden Science-Fiction-Roman zwischen Genetik und Generationenkonflikt vor.

Glaubt man den Aufzeichnungen des Autors Michael Stauffer, dann übernahm er in seinem neuesten Buch lediglich die Aufgaben eines Herausgebers. An einem lauen Juni-Tag des Jahres 2013 soll es gewesen sein, der Kaffee schmeckte wie immer, die Nachrichten berichteten von einem abgebrannten Altersheim in der Nähe. Auf einem Spaziergang zum Unglücksort soll ihm ein Hund entgegengelaufen sein, auf seinem Halsband hängte ein USB-Stick mit 33 odt.-Dateien, alle mit "Freiheit_Sonnenschein" von 001 bis 033 betitelt. Dadurch soll er jene Geschichte des Henri Choffat entschlüsselt haben, der ihm nach einem einvernehmlichen Treffen zugesagt hatte, diese nun auch in Buchform zu veröffentlichen. Ein Glücksgriff für den Schweizer Autor.

An seinem 40. Geburtstag bekam Henri Choffat nämlich einen Anruf vom sogenannten World Genetic Center (WGC). Mit der recht ungewöhnlichen Mitteilung, dass es auf der Welt außer Henri noch 22 andere Menschen mit völlig identischem Gen-Profil gibt. Das heißt also insgesamt 23 Menschen mit völlig gleicher DNA. Um aber herauszufinden, ob dies auch zu gleichen Lebensideen, Lebensformen und Verhalten führt, wird er aufgefordert, gegen eine monatlich hohe Summe (6000 Schweizer Franken, also rund 5000 Euro) seine Biografie zu schreiben. Allerdings mit der Auflage, dies in einem Altersheim zu tun, um auch den nötigen Abstand zu seinem Alltag zu haben.

Altersheim

Airman Magazine / Creative Common

Perfekter Ort für seine Biografie

Help the Aged

Ansichten eines alten Kamels-Buchcover

Voland & Quist

Michael Stauffer: "Ansichten eines alten Kamels" ist 2014 bei Voland & Quist erschienen.

So bizarr das klingt, so wenig schreibt Henri am Beginn. Mit dem Wissen, dass da noch andere außer ihm sind, die ihm nicht nur ähneln, sondern gleich sind, verfällt er erst mal in Lethargie. Inzwischen trudelt das Geld auf sein Konto, rund 360.000 Franken sammeln sich an, ohne auch nur ein Wort geschrieben zu haben. Dann bekommt Henri doch ein schlechtes Gewissen und zieht in besagtes Altersheim. Die WGC macht es ihm auch äußerst leicht, seine Erinnerungen niederzuschreiben. Auf einer Webseite kann er mit Login-Daten einfach in Blogform alles festhalten, was früher in seinem Leben passiert ist. Dabei helfen ihm stimulierende Bilder und Videofilme, um seine eigenen Kindheitserinnerungen zu aktivieren.

Das ist die eine Ebene.

Die zweite ist das Altersheim selbst, in dem nicht nur unzumutbare Zustände herrschen und Menschen tagelang in ihrem eigenen Urin schlafen, sondern in dem Henri auch von einer Gruppe Senioren umringt wird, die mit ihm gemeinsam gegen die leider auch menschenunwürdigen Verhältnisse in so einem Altersheim aufbegehren möchten. Seltsamerweise lässt sich Henri auch instrumentalisieren und wird bald zum 40-jährigen Rebellen im Seniorenheim.

Coming Out Of Age

Vordergründig geht es im dünnen Bändchen (140 Seiten) "Ansichten eines alten Kamels" natürlich um das Zurechtkommen in einer immer älter werdenden Gesellschaft – auch in Österreich ein großes Thema, und da ist es natürlich amüsant zu lesen, wenn ein 40-jähriger, völlig gesunder Mann, im Altersheim gegen das Wegschieben der Älteren und die fehlende Individualisierung rebelliert. Klingt nach Science Fiction, ist jedoch fest in der Gegenwart verankert.

DNA

Kir William / Creative Common

We are all but the same

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Wenn man nämlich tiefer in die Tagebucheinträge von Henri einsteigt, dann stellt Michael Stauffer die Frage, ob es diese Individualisierung in unserer Gesellschaft überhaupt geben kann? Denn die Senioren, die sich um Henri bemühen, ähneln ihm auffällig: sei es im Aussehen, im Verhalten oder in ihren Ideen. Und das ist die Kritik des Autors, wenn man so will. Unsere Zeit ermöglicht nach seiner These kaum bis gar keine Individualisierung. Wann tut man etwas, was noch nie sonst jemand vorgelebt hat? Wir, mit unseren Facebook-Profilen, dem Massenkonsum unterworfen, mit Lebensstrategien, die wir ständig von anderen übernehmen (vom Biokonsum über welche Filme und Serien wir ansehen), haben zwar nicht die gleiche DNA, wie in Stauffers Buch, aber er provoziert die Annahme, dass wir uns alle ähnlicher sind, als wir wollen. Im Altersheim zeigt sich dies aktuell in unserer Gesellschaft nur am deutlichsten, da das Alter generell als etwas Verbannungswürdiges, eine Last und Qual, massenwirksam inszeniert wird.

So richtig schlau wird man aus diesem Buch nicht. Es ist kurz, verwirrend, das Ende keineswegs abgerundet. Trotzdem oder gerade deshalb unglaublich genial.