Erstellt am: 30. 6. 2014 - 20:05 Uhr
The daily Blumenau. WM-Journal '14, Eintrag 67.
Das ist das WM-Journal '14, die einzige seit Jahren schon live unternommene strategisch-taktische Einschätzung der Matches in Österreich.
Was bisher geschah:
AF1: Brasilien - Chile
AF2: Kolumbien - Uruguay
AF 3: Niederlande - Mexiko
AF 4: Costa Rica - Griechenland
AF 5: Frankreich - Nigeria
Das waren Deutschland - Portugal bzw Belgien - Algerien.
Dann Deutschland - Ghana und Südkorea - Algerien.
Und schließlich USA - Deutschland und Algerien - Russland.
Das WM-Journal ist Teil des daily blumenau, das seit Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst hat. Mit Items aus diesen Themenfeldern.
Tolles Spiel von Algerien, Halilhodžić hatte mit allen Umbauten recht, hat seine Elf exakt auf die Schwächen des Gegners ausgerichtet - nur ganz kleine Schwächen (ein wenig Zögerlichkeit bei den Attacken in der Zentrale, zu wenig Nachdruck bei Ballverlusten auf der gefährdeten Schürrle-Seite) haben den Unterschied gemacht.
Deutschland hat ein immer größer und größer werdendes Problem. Nein, viele.
1) so geht's nicht weiter mit der staksigen Abwehr voller Innenverteidiger. Gegen wirklich gute Gegner braucht es die Unterstützung auf den Seiten, die Dopplung an den Flanken. Mit Höwedes, Boateng und auch Mustafi geht das aber nicht.
2) Lahm ist, wenn er etwas spürt, eh überall, eh auch dort wo's weh tut, plötzlich in der vordersten Spitze, links, rechts, zentral, letzter Mann. Aber: in dieser Rolle als Sechser hinter zwei Achtern, die ihren Job zu guten Teilen auch nicht anders als er anlegen, ist er verschenkt. Und das zeigt er mit jeder seiner vielen ungewohnten Unsicherheiten. Befreit den Mann.
3) Dass Khedira oder Schweinsteiger nicht voll gehen können, ist klar. Wenn es sich dann aber ein vollfitter, aktuell von Real umworbener Kroos leistet, in einem solchen Spiel derart unterzugehen, dann ist er ein Fall für den Psychologen
4) Es ist weder die WM von Özil noch die von Götze: sie stolpern, verlieren Bälle, gewinnen kaum Zweikämpfe und passen auch noch schlecht. Auch ihnen tut das neue 4-3-3 nicht gut. Sie sind im Team und auch bei ihren Vereinen eher ein 4-2-3-1 gewöhnt, mit also noch einer weiteren Anspielstation. Und sie brauchen auch das Backing der Dreier-Kette dahinter - was die DFB-Elf derzeit einfach nicht gebacken kriegt.
Also - die meisten Probleme macht Löws kurzfristige, zu hektisch geplante, zu wenig geprobte Systemumstellung. Und weil er da nicht mehr zurückkommt, ohne Gesichtsverlust, wird er sich weiter drauf versteifen und weiter alle seine Akteure mit einem Mühlstein belasten.
Das tolle Spiel von Tormann Neuer etwa war auch nur deshalb notwendig, weil seine Abwehr statisch und staksig agiert. Wenn Mertesacker, der intelligenteste Mann, im Flash-Interview den Reporter anpempert, dann zeigt das nur wie die Nerven deshalb schon blank liegen
Man muss Löw aber auch konzidieren, dass er mit einer Entscheidung das Spiel gedreht hat: dadurch, dass er Schürrle brachte, hat er in Halbzeit 2 fast jeden algerischen Angriff über links verhindert - und ich wette, dass andernfalls dort ein Tor gefallen wäre - Ghoulam flankt, Slimani nickt ein. Durch Schürrles energieaufwändige Leistung wurde das verhindert. das hat Löw prima erkannt. Warum er anderes nicht sieht, bzw. nicht drauf reagiert, ist unerklärlich. Ebenso, wie Bastian Schweinsteiger unbarmherzig so lange draufzulassen, bis er kaputt rausgeschleppt werden muss. Das zeugt von zu viel Verzweiflung, kommt nicht gut im offenbar (siehe Merte) eh schon angespannten Mannschaftsklima.
Es gibt aber auch Anzeichen für eine Lösung jenseits der Selbstkritik: nämlich das alte Kopf-nach-unten-und-durch-Spiel, psychologisch zumindest, das der 90er-Generation ihre Kraft verlieh. Bloß: heute reicht diese Art von Scheuklappen-Fußball nicht mehr für den großen Wurf.
Die unerwartete Verlängerung mit dem erwarteten Tor
Coach Halilhodžić holt sich Ghoulam, den Linksverteidiger, den Spieler, der am meisten unter Druck steht, und instruiert ihn. Dann redet er den Kreis um ihn in Brand, toll.
Aber der 1. Angriff bringt das 1. Tor, Angriff über links, zumindest nicht Ghoulams Seite, Müller crosst und Schürrle nudelt den Ball rein (92.): 1:0. Schon kein Zufall, dass er das macht. Ohne ihn wäre Deutschland vielleicht schon weg.
In Minute 96 kann Halliche (nachdem er Özil den Ball vom Fuß nahm) nicht mehr - für ihn kommt 2 Bougherra, der auch die Schleife übernimmt. 18 Djabou kommt (100.) für 15 Soudani und übernimmt die linke Seite, der letzte mögliche Tausch.
Mostefa vergibt einen Corner-Rebound (102.) knapp, die Chance lebt also.
Schweinsteiger kann nicht mehr, muss aber: er ist der Impulsgeber und Leader, der Laternenpfähle wie Özil antreiben muss; egal, ob er als Krüppel vom Feld schleicht.
Halbzeit 2 der Extratime (0:15)...
Lahm sieht gelb, weil er auf seiner Seite mit Djabou und Ghoulam, aber auch Brahimi gleich drei arge Gegenspieler hat. Schweinsteiger bricht zusammen, muss raus (109.) für ihn kommt 23 Kramer.
Algerien baut weiter ganz ruhig auf, verfällt nicht in Hektik, will es spielerisch lösen. Mutig.
Die deutschen Konterchancen werden jetzt natürlich deutlicher, weil sie mehr Räume kriegen. Müller vergibt da was (117.), ehe dann Özil mit einem zweiten oder dritten Nachschuss bei einer solchen Überzahl-Chance die Entscheidung setzt - 2:0 eine Minute vor Ende.
Dass Djabou dann in der Extratime der Extratime nach einer Feghouli-Flanke noch ein Tor macht, ist eine feine und faire Ergebnis-Korrektur.
Lahm wird Rechtsverteidiger! Wilde Schlussphase (67. - 95. Min)
Mustafi verletzt sich, ganz von selber (68.) - 6 Khedira wird kommen, witzig... wie soll das gehen? Oh, Lahm retour in die Abwehr? Nicht möglich! Doch - Lahm ab Minute 71. wieder einmal als Rechtsverteidiger, Khedira im zentralen Mittelfeld der drei Sechser
Das ist sogar doppelt clever, weil Lahm jetzt mit Schürrle den Druck über seine Seite noch erhöhen wird! Oder besser: sollte.
Dann wieder eine Hin-und-Her-Phase in der es beide kurz wissen wollen, da flackert es jetzt auf beiden Seiten.
Flügelwirbler 11 Brahimi kommt (78.) für 19 Taider, der im Zentrum war. Brahimi ist ein echter Konterspieler.
Zehn Minuten vor Ende plötzlich eine Chancenserie: Kopfbälle (Müller) und Rebounds, die beim Tormann oder Verteidiger auf der Linie landen, echte richtige fette Chancen, deutsche Chancen! Und es geht weiter so: Müller außenristlt einen Ball nach super-Trick knapp vorbei (82.)
Schweinsteiger macht jetzt den Unterschied: der agiert als vierter Angreifer, während Kroos, der ein fünfter sein könnte, komplett abgetaucht ist. Dann drei Minuten vor Schluss ein Freistoß-Trick mit Slapstick-Stolperer, das wird, wenn's schiefgeht zum Sinnbild des Spiels werden; wenn nicht, sofort vergessen.
Dann putzt Neuer zum wiederholten Mal als letzter Mann einen Ball weg, unglaublich. Und im Gegenstoß setzt Schweinsteiger einen Kopfball in M'Bolhi Arme.
In der 4minütigen Nachspielzeit ist die geistige Müdigkeit schon zu hoch für noch was. Lahm als vorderste Spitze, na schau!
Halbzeit 2 - und jetzt spielt Deutschland auch mit (46. - 66.Min)
Es kommt 9 Schürrle für 19 Götze für echtes Flügelspiel.
Und in Minute 48 beginnt das deutsche Spiel. Zuerst klassisch, mit einem Pressball, der fast reintrudelt, dann mit einem guten hochstehenden Schürrle-Kopfball. Schürrle läuft jetzt den rechten Flügel entlang.
Hinten sieht's weniger doll aus, schwacher Aufbau, Neuer muss wieder eingreifen. Und nach einem Fehler nach einem Corner passt er zu Schürrle, der den Ball allein vorm Tormann nicht erreicht. Dann Re-Konter Algerien und dann ein Brutalo-Foul von Schweinsteiger, es geht jetzt also richtig los: Halbzeit 2 wird eine mit Tritten und Bissen sein, im übertragenen Sinn...
Schweinsteiger ist jetzt viel links, hinter Özil, Müller bleibt zentral.
In Minute 54 spielt Deutschland erstmals einen schnellen Angriff so durch, wie man es gewohnt ist, Özil treibt, ein paar schnelle Wechsel, gut den Mann in der Mitte freigespielt, der dann für Lahm auflegt, dessen Weitschussbombe von M'Bolhi Fingerspitzen ganz leicht abgelenkt knapp über die Latte fliegt. So geht es.
Geht es jetzt öfter so?
Algerien steht jetzt wieder 4-5-1 um Sicherheit zu kriegen. Der Angriff zuvor war möglich, weil die defensive Zentrale viel zu spät attackierte; da muss man sich wieder finden.
Schürrles Hereinnahme hat schon etwas gebracht: Die Gefahrenzone Ghoulam ist jetzt hinten gebunden, und es sind nimmer die ungenauen Abspiele von Mustafi, sondern getimte Passes in den Rückraum, die von rechts daherkommen. Die linke deutsche Seite bleibt lahm, auch weil der (haha, Wortwitz) anderswo rumturnen muss.
Minutenlang geht nun schon alles über rechts, nur noch über Schürrle, wer anderer spielt aktuell gar nicht mit.
Algerien lässt den Gegner jetzt recht widerstandslos tief in die eigene Hälfte kommen, vielleicht um die Gefahr des Tempogegenstoßes mit Anlauf zu meiden.
In der Halbzeitpause...
... kurz rüber zum ahnungslosen ZDF-Mann, der die Klischee-Kiste bemüht, jetzt alles besser weiß und sich beschwert, dass niemand ihn vor diesen Algeriern gewarnt habe. Er ist also nicht nur blind, der Arme, sondern auch taub: Trainer Löw hat in den letzten Tagen viele viele Minuten auf genau das verwandt.
Taktische Lehrstunde für Löws müdes System (33. - 47. Min)
Thomas Müller kriegt seinen ersten guten Kopfball (35.) - er ist also da und spitzt seinen Bleistift noch an.
Es ist aber das schlechte Passspiel, das es seiner Mannschaft fast unmöglich macht, ihn überhaupt öfter so in Position zu bringen. Klappt überhaupt nicht, auch Özil oder Götze - schwach. Kroos ordnet heute nichts, Schweinsteiger geht zu viele unnötige Wege in die Außenzonen, reibt sich dort auf um Kilometer zu sammeln, tut aber wenig fürs Spiel.
Algerien baut seine Angriffe erstaunlich sicher, one-touch-passing auf, ist recht schnell weit drin in der gefährlichen Zone. Glück für Neuer nach einem abgefälschten Mostefa-Schuss (39.) - ein deutscher Konter wird dann in einer 2zu5-Unterzahl gespielt; da fehlt's am Nötigsten.
Rais M'Bolhi machts unnötig spannend, er lässt einen nicht so aufregenden Kroos-Ball prallen, rettet beim Nachschuss von Götze dann aber super (40.) - und ist im Rauslaufen sowieso erstklassig. Dann tritt Halliche Schweinsteiger und kriegt gelb - man wird nervöser.
44., typischer deutscher Angriff: man steht 2-5-3 mit einem Riesenloch zwischen Mittelfeld und Angriff. Idiotisches wird durch Wiederholung nicht weise.
Algerien haut den Ball nicht hirnlos hinten raus, sondern baut gezielt auf
Deutschland kriegt das Spiel nicht zu fassen (16. - 32. Min)
Algerien versucht das Spielfeld lang zu machen, um so die deutschen Formationen zu trennen: die deutschen Versuche eng aufzurücken, sind irgendwie im Ansatz steckengeblieben.
17.: tolles Flugkopfball-Tor von Slimani nach Ghoulam-Cross; knapp offside. Wieder nach einem schnellen Gegenangriff. Und dann eine Minute später ein toller Ghoulam-Linksdrüber-Schuss.
Herr Löw ist nicht erfreut. Zurecht: Mustafi probiert rechts einiges, Höwedes links nichts, Lahm lässt sich hauptberuflich zwischen die Innenverteidigung fallen, Schweinsteiger und Kroos sehen zu wenige Bälle, die meist nur maximal zwei Angreifer im Strafraum sind zuallermeist gut abgedeckt.
Hohes Pressing der Algerier, wenn die deutsche Verteidigung zahlenmäßig gleichwertig ist, Lahm knapp vorm Katastrophenfehler. Neuer muss rettend als Not-Libero eingreifen.
Lahm ist auch heute, im dritten Spiel von sportlichem Wert, eine wandelnde Katastrophe. Und das ist nicht seine Schuld, sondern die derer, die ihn dort hinstellen.
Interessante Info von Kastner-Jirka: nach 31 Minuten das erste deutsche Foul... Ich sage nur: Spanien. Das ist der spanische Ansatz, Ballbesitz, Überzahl, Kreativität, kein Foulspiel nötig haben. Die alte Deutschland-Umschalt-Rollkommando-Konterstrategie ist endgültig in der Mottenkiste; die bedingt nämlich gezieltes kontrolliertes Foulspiel. Und das kann diese DFB-Elf gar nicht mehr.
Meine ich alles nicht wertend: ich halte beide Methoden für zulässig und Weltklasse.
Halbzeit 1: unerwarteter Beginn (1. - 15. Min)
... und ich sehe sofort ein 4-2-3-1 bei Algerien, nix Fünfer-Abwehr wie in der Einblendung davor; und natürlich ist das offensiv as can be. Offensiver als der Gegner in seinem italienisch anmutendem 4-3-3 allemal.
Mostefa und Lacen sind heute Medjani-Bentaleb, der Block in der Zentrale. Offensiv stehen Feghouli (immer noch mit kleiner Aua-Mütze) rechts, Soudani links, Taider als Verbinder in der Zentrale. Ganz vornedrin Brecher Islam Slimani.
Mustafi wie erwartet rechts, Boateng nicht rechter, sondern linker (!) Innenverteidier. Lahm hat Schweini halbrechts, Kroos halblinks vor sich, sie versuchen merklich Bindung an den Dreier-Angriff (der wieder wie wild rochiert) zu finden. Deutschland also wie erwartet und gehabt, mit Schweinsteiger, der das System kapiert hat anstelle von Khedira, der nicht.
Die erste tolle Szene (9.) ist ein Laufduell Slimani gegen Neuer, weil der Stürmer nach einem dieser weiten Bälle seinem Verteidiger wie nix wegrennt. Boateng läuft anschließend in den Rücken eines Gegenspielers um sich fallen lassen zu können. Vielleicht deshalb auch sein nächster Fehler in nächsten Laufduell mit Slimani.
Es sind aber nicht nur die Konter, die Algerien zur aktiveren Mannschaft machen - es kommt auch sonst mehr von den Grünen, sie schalten schneller um, sind schneller im gegnerischen Strafraum, an der Toroutlinie und erzeugen auch mehr Gefahr.
Direkt vor den Hymnen...
erzählt mir der ZDF-Mann was von einer "erneut sehr defensiven Aufstellung" der Algerier - er ist also entweder blind oder ein Schwindler, der noch kein Match gesehen hat (oder auch erklären könnte, was an einem 4-2-4, also einer deutlich mutigeren Ausrichtung als der des DFB-Teams mit seinen vielen Innenverteidigern und Sechsern, defensiv sein soll), ab zur ORF-Übertragung; der dümmliche und inhaltlich schwache Pseudo-Patriotismus von ARD/ZDF sucht dieses Mal ja echt seinesgleichen.
Die Aufstellungen
Deutschland spielt in weiß mit
1 Neuer; 21 Mustafi, 17 Mertesacker, 20 Jerome Boateng, 4 Höwedes; 18 Toni Kroos, 16 Lahm (K), 7 Schweinsteiger; 8 Özil, 13 Thomas Müller, 19 Götze
Eine Umstellung: 5 Hummels ist krank, für ihn rückt Boateng ein, Mustafi kommt für rechts. Schweinsteiger statt Khedira, klar. 10 Podolski ist verletzt. 9 Schürrle und 11 Klose in der Hinterhand. Löw bleibt bei seinem System, nur Höwedes ist belastet.
Algerien in hellgrün spielt mit...
... keine Ahnung, ich versteh's nicht... vielleicht so:
23 M'Bolhi; 20 Mandi, 4 Belkalem, 5 Halliche (K), 3 Ghoulam; 22 Mostefa-Sbaa, 8 Lacen; 21 Taider; 10 Feghouli, 13 Slimane, 15 Soudani
2 Bougherra (K) ist nach seiner Verletzung nur Ersatz, okay. Goulam ersetzt 6 Mesbah links, vielleicht ist er der wildere.
Aber: mit 12 Medjani, 14 Bentaleb ist das Sechser-Bollwerk nicht nominiert. Häh?
18 Djabou und 11 Brahimi, das Dynamo hinter Slimane muss raus! Huh?
Was kann das heißen?
Taider könnte wie in Spiel 1 als Verbinder hinter dem Dreier-Angriff spielen - man wäre so vorsichtiger, aber immer noch gut aufgestellt.
Mostefa ist ein Spieler für rechts, aber zwischen Mandi und Feghouli ist kein Platz - also spielt er wohl zentral. Aber warum sind Medjani und Bentaleb, bisher die Garanten für alles, raus? Ramadan?
Außerdem noch in der Hinterhand: 21 Mahrez, 9 Ghilaz für vorne, 7 Yebda fürs Zentrum.
Trotzdem brauche ich Aufklärung. Von den "Experten" werde ich sie nicht kriegen, also vom Spiel selber.
Es ist regnerisch und fast kühl im Estádio Beira-Rio, in Porto Alegre, der Brasilianer Sandro Ricci pfeift.
...ein paar erklärende Zeilen zu einem vielzitierten Schlagwort und seinen Hintergründen...
Okay, sollte es tatsächlich auch nur eine lesende Person geben, die nicht versteht was das bedeuten soll, das mit dem dauernden Gijon: hier ist der Info-Link dazu.
Am 25. Juni 1982 beim letzten Gruppenspiel der WM in Spanien trifft Deutschland auf Österreich. Weil Algerien, das zuvor Deutschland sensationell 2:1 besiegt hatte, sein letztes Match schon bestritten hatte, wissen die Kontrahenten das ein knapper Sieg der Deutschen sowohl sie als auch Österreich in die nächste Runde befördert. Nach dem schnellen 1:0 einigen sich die Teams auf dem Platz auf 80 Minuten reines Ballgeschiebe - bis auf den weiter Bälle fordernden widerständigen Walter Schachner machen alle bei dieser Scharade mit. Auch die Uneinsichtgkeit, das blöde Gerede nachher, war unerträglich.
Ich darf wieder einmal die Österreicher, die die Schande von Gijon mitgetragen haben und dafür in der Hölle einen sehr heißen Platz mit ihrem Namen vorreserviert haben, vor den Vorhang holen: Friedl Koncilia, Obermayer, Krauss, Pezzey, Degeorgi, Hattenberger, Heribert Weber, Prohaska, Hintermaier, Krankl.
Ich bitte öffentliche Äußerungen dieser Herrschaften zum Thema Moral, Anstand, Fairness etc. auch in diesem Zusammenhang zu sehen.
Die Folgen dieser in ihrer Unsportlichkeit bis dorthin nicht für möglich gehaltenen Aktion waren mannigfaltig: Österreich war jinxed, das Fußball-Niveau fiel in den folgenden Jahren ins Bodenlose und erholt sich eben erst wieder. Deutschlands Image als hässliche Nazis, als unmenschliche Effizienzler wurde zementiert und erst 2006 durch Jürgen Klinsmann weggebracht; bis dahin war Gijon neben Schumachers Battiston-Tritt der schlimmste Hassschürer gegen das DFB-Team
Die wichtigste Konsequenz: seitdem werden bei großen Turnieren die letzten Gruppenspiele zeitgleich ausgetragen. Davor war das, man glaubt es kaum, nicht nötig.
Ich, vorher regelmäßiger Matchgänger und Fan, habe nach 1982 vier Jahre lang keinen Platz besucht. Mich hat die Schande von Gijon persönlich beleidigt, ich wollte keine der miesen Betrüger-Fressen mehr sehen. Den Boykott hab ich nur für die großen Turniere gelockert: bei der Euro 84 bekam Deutschland seine Strafe und scheiterte peinlichst, die WM 86 war akzeptabel, weil Österreich sich nicht qualifizieren konnte und Deutschland eine finale große Demütigung erhielt.
Danach habe ich dann den Weg zurückgefunden, Gijon wird aber immer ein Teil meines Fußball-Lebens bleiben, eine wütende Kotz-Reaktion auslösen, für alles stehen, was böse, liederlich und menschenverachtend ist.
Für alle Algerier ist eine solche Milde natürlich nicht möglich: dort hat Gijon ein nationales Trauma hinterlassen. Algerien wurde als klar bestes Team der Gruppe von zwei Querschieber-Truppen rausgekegelt. Algerien ist seitdem nie wieder auf Deutschland getroffen: der DFB hatte nie die Größe eine entsprechende Geste der Entschuldigung zu setzen. Die Bilanz der Nordafrikaner ist makellos: zwei Spiele (64 und 82), zwei Siege.
Natürlich ist es höchst unwahrscheinlich, dass die mit allen Wassern gewaschene DFB-Maschine gegen die vergleichsweise mit geringen Mitteln instruierten Algerier verlieren. Aber wenn es irgendwann in der Fußball-Geschichte einen richtigen Zeitpunkt für eine Revanche gibt, dann ist er jetzt gekommen. Auch weil Albert Camus Recht behalten soll.
PS: Interessant wie sich die Deutschen (damalige Spieler ebenso wie heuteshow-Idol Oliver Welke rausreden: es wäre ja keiner mehr von damals quasi am Leben. Erinnert verbal vollinhaltlich an die Argumente, mit denen in den letzten Jahrzehnten Nazi-Verbrechen ihre Vergehen als minder schwer beschönigt hatten. Nur formal selbstverständlich - ich finde aber die Wiederverwendung dieses alten Muster erzählt schon eine ganze Menge über Schuld, Moral, Verdrängung und Aufarbeitung.
Was sonst noch vor dem Spiel zu sagen ist
Sportlich ist die Ausgangslage einigermaßen klar.
Deutschland ist schief ins Turnier eingestiegen, mit einem viel zu hoch ausgefallenen glücklichen Sieg, der von einer hysterisierten Öffentlichkeit zu einer tollen Leistung hochgepumpt wurde, wiewohl selbige mäßig und voller Fehlleistungen war. Danach kam die bislang beste Turnierleistung gegen Ghana, als man sich als die vielleicht schlechtere Mannschaft noch zu einem Remis rettete und die vielen Fehler aus Spiel 1 langsam in den Griff bekam. Und es folgte die abgekartete, sportlich also völlig wertlose, weil nicht mit voller Leistung bestrittene Partie gegen die USA, die so ausging dass es beiden zum Aufstieg gereichte, Gijon reloaded.
Algerien hat sich mit einer sehr guten Leistung gegen Favorit Belgien gut ins Turnier gebracht, konnte sich nach der unglücklichen Niederlage zu einem superfeinen Match gegen Südkorea aufraffen und agierte gegen Russland dann ein wenig zu vorsichtig, war bedacht das für den Aufstieg nötige Remis zu halten und so zu verhalten um noch einmal zu strahlen.
Zu verdanken ist das alles dem schon vor der WM stabilen algerischen Spielsystem, das eine strenge Defensive ebenso kreativ nach vorne denken lässt, schnelles und technisch hochwertiges Umschaltspiel praktiziert und Geduld hat. Und einer gelungenen vielfachen personellen Umstellung von Coach Vahid Halilhodžić.
Umgekehrt hat Jogi Löw noch nicht in das extra für die WM neu hingestellte System gefunden, also auch seine Mannschaft nicht.
Nochmal die Kurzversion: weil so viele defensiv zentrale (die von Löw gehegte Herz des Teams) Mittelfeldspieler verletzt fehlen oder angeschlagen dabei sind, folgte Löw dem Vorbild Guardiola/Bayern und zog seinen allerintelligentesten Spieler, Kapitän Lahm in die Zentrale. Das (und ein weiterer Ausfall auf der anderen Außenverteidiger-Position) machen die Abwehr ein wenig steif. Außerdem zieht Löw Lahm zu weit zurück, ohne Bindung etwa zu Toni Kroos und hat ihm auch noch zwei Spiele lang Samy Khedira nebenbei platziert, der es nicht gewohnt ist, dass hinter ihm noch einer sein darf, und das System so nicht optimal umsetzte. Außerdem ist Khedira nicht vollfit; so wie auch Schweinsteiger, der mit Lahm besser zusammenspielen kann. In dieser Zentrale kracht, krankt und kriselt es. Die Anfangsphase gegen Portugal war eine Katastrophe, die Fehlerquelle gegen Ghana lag dort.
Außerdem nimmt das neue 4-3-3 mit Kroos und Schweini/Khedira als Achter vor Lahm einen Mann aus der bisher mit vier Super-Akteuren für unschlagbar gehaltenen Offensive des DFB-Teams. In den beiden echt bestrittenen Spielen waren die Lücken zwischen der nunmehr zur Dreierkette beschnittenen Offensive und dem mit Abwehr-Aufgaben überforderten Dreier-Mittelfeld dahinter riesengroß: optisch und auch mental. Gegen die USA sah das besser aus, aber das war ja nur ein besseres Trainingsmatch.
Vahid Halilhodžić jedenfalls, der in Bosnien geborene Wahlfranzose ist ein Coach dem zuzutrauen ist diese Unsicherheiten auszunützen und dem deutschen Team etwas entgegenzusetzen, was sie ähnlich schmerzen wird wie die Gegenwehr im Ghana-Match.
Geht ein solcher Plan schief, kann es für Algerien aber auch bitter enden.
Das deutsche Starting-Lineup gegen Portugal und Ghana:
1 Neuer, 20 Jerome Boateng, 17 Mertesacker 5 Hummels, 4 Höwedes; 6 Sami Khedira, 16 Lahm (K), 18 Toni Kroos; 8 Özil, 13 Thomas Müller, 19 Götze
Gegen die USA kam Schweinsteiger statt Khedira, Podolski statt Götze, whatever: 1 Neuer, 20 Jérôme Boateng, 17 Mertesacker, 5 Hummels, 4 Höwedes; 18 Toni Kroos, 16 Lahm (K), 7 Schweinsteiger; 8 Özil, 13 Thomas Müller, 10 Podolski
Algeriens erste Partie bestritten: 23 M'Bolhi; 22 Mostefa, 2 Bougherra (K), 5 Halliche, 3 Ghoulam; 12 Medjani, 14 Bentaleb; 19 Taider; 10 Feghouli, 15 Soudani, 21 Mahrez
Für Match 2 tauschte Halilhodžić die Außenverteidiger und drei aus der Vierer-Offensive: 23 M'Bolhi; 20 Mandi, 2 Bougherra (K), 5 Halliche, 6 Mesbah; 12 Medjani, 14 Bentaleb; 10 Feghouli, 18 Djabou, 13 Slimane, 11 Brahimi
Im 3. Spiel fehlte Kapitän Bougherra verletzt, es gab also nur eine Umstellung: 23 M'Bolhi; 20 Mandi, 4 Belkalem, 5 Halliche (K), 6 Mesbah; 12 Medjani, 14 Bentaleb; 10 Feghouli, 13 Slimane, 11 Brahimi, 18 Djabou.
Das ist ein 4-2-3-1, das sich meist zu einem 4-2-4 zusammenschiebt. Und letztlich auch ein Bruch mit dem 4-3-3, das man vor der WM präferierte: mit zwei Achtern vor einem Sechser und einem Dreier-Angriff... Erinnert doch fatal woran? Genau, das aktuelle deutsche System!
Vielleicht holt Halilhodžić ja genau dieses Spiegelbild heraus um den Gegner die entscheidende Verunsicherung zu bereiten.