Erstellt am: 29. 6. 2014 - 16:58 Uhr
Erfreuliche Begegnungen mit der Vergangenheit
Ein schwieriges Unterfangen, ein Drahtseil-Akt, der recht schnell in der Humor-Kiste hätte enden können. Die großartige Róisín Murphy hat Ende Mai eine gemeinsam mit ihrem Ehemann Sebastiano Properzi produzierte EP veröffentlicht, die aber glücklicherweise nicht an einer allfälligen Melkung eines, haha, Trash-Appeals interessiert ist.
Auf der EP namens "Mi Senti" huldigen Murphy und Properzi geschmack- und würdevoll dem großen Phantom "Italo-Disco". Fünf italienische Klassiker aus den 60ern und 70ern haben sie in ein modernes Kostümchen gekleidet, einen neuen, in Wahlverwandtschaft zu Glitzerkugel und Liebelei stehenden Song haben sie selbst geschrieben. Ein Highlight der EP ist der Song "In sintesi" – die Originalkomposition von Murphy und Properzi. Nicht ganz unwahrscheinlich, dass die die darin besungene Synthese die bestens geglückte Zusammenarbeit und Verschmelzung der beiden meint.
Ein unterkühlter Roboter-Funk, der sich überdeutlich vor den ewigen Erfindern Giorgio Moroder und Kraftwerk verneigt. Bei aller zurückhaltender Größe des Songs "In sintesi" – und selbst wenn Murphy und Properzi den Drang verspürt haben dürften, die eigene Nummer dann eben vielleicht doch den kleinen Tick besser zu machen als die Coverversionen – so ist das Prunkstück der EP doch ein anderer: Die Neudeutung von "Ancora tu" – im Original aus dem Jahr 1976, geschrieben und interpretiert von Lucio Battisti. Kennt in Italien jeder, wie man so hört.
Wie die gesamte EP für Menschen aus Italien oder solche mit mehr als gerade einmal rudimentären Kenntnissen der italienischen Sprache klarerweise nicht ohne Vorbehalte zu hören ist. Eventuell klingt das alles in Wirklichkeit ganz furchtbar. Für die meisten anderen sind diese Lieder zunächst weitestgehend von ihren ursprünglichen Kontexten befreit und man darf sich zu ihnen, wie damals bei "Bello e impossibile" und "Se bastasse una canzone" und noch viel früher vor damals auch zu englischen Songs, in einer freien Fantasie-Sprache selbst ausdrücken. Vielleicht heute nicht mehr ganz so frei.
Man kann zum Beispiel herausfinden, dass "Ancora tu" vom zufälligen Wiedertreffen zweier ehemaliger Geliebter handelt. Und dass die Anziehung zwischen den beiden nach wie vor da ist und dass so eine Begegnung auch ja ausnahmsweise einmal ganz wunderbar sein kann.
- Alle Songs zum Sonntag auf FM4
- Auch der geschätzte Wissenschafts- und Popjournalist Thomas Kramar macht sich in der Presse am Sonntag zum jeweils selben Song seine Gedanken.
Vor allem aber merkt man der Interpretation von Róisín Murphy an, dass es sich hier nicht um eine Gag- oder Novelty-Veranstaltung handelt, sondern dass sie sich den Originalen mit Respekt nähert. Wenn sich anderswo aktuelle Produzenten mit dem Label "Italo-Disco" schmücken, geht es oft um nicht wesentlich mehr als Neon-Farben, schrille Schwülstigkeit, 80er-Jahre-Pastell und leicht humoristische Knall-Effekte. Oder gar noch um das Füttern alter Italien-Klischees und -Träumereien.
Murphys "Ancora tu" ist in seiner Anlage den Slowdance- und Sitzdisco-Arbeiten von Grace Jones auf ihrem Album "Nightclubbing" nicht unähnlich: Murphy wirkt entrückt, distanziert, aus der Zeit gefallen, gleichzeitig glüht hier die Sehnsucht. Man muss es nicht verstehen. Man kann sich vorstellen, es zu verstehen.