Erstellt am: 28. 6. 2014 - 12:49 Uhr
Roadtrip zurück ins Leben
Es gibt sie, diese Bücher, die einem einfach in die Hände fallen. Auf den ersten Blick unscheinbar, vielleicht mit schmuckem Cover und schlanken 160 Seiten. Der Klappentext verrät nicht all zu viel und ohne große Erwartungen beginnt man zu lesen. Und dann, nach ein paar Seiten trifft es einen mitten ins Herz.
Genau so einen Roman hat der französische Autor Jean-Philippe Blondel geschrieben, wofür er sich jedoch rund zweieinhalb Jahrzehnte Zeit lassen musste.
Lloyd Cole und der Tod
Am Anfang steht ein Song, ein kompaktes Stück Popmusik namens "Rich" von einem britischen Sänger und Songwriter.
"Ich habe es oft gehört, dieses Stück von Lloyd Cole. Es ist eine erstaunliche Mischung aus Blechbläsern, Schlagzeug und Saiteninstrumenten. Heraus kommt eine klangvolle, energiegeladene Melancholie - eine so dynamische wie ironische Vision des Lebens. Soweit ich es verstanden habe, geht es um einen reichen Alkoholiker in Morro Bay, der schon lange Zeit von der Frau seines Lebens verlassen wurde. Er ist auf dem Gipfel seiner Macht und seines Reichtums, doch im Grunde hat alles keinen Sinn - er ist auf der Suche."
(Auszug aus "Zweiundzwanzig" von Jean-Philippe Blondel)
Mare Verlag
Dieses Lied hört der 22-jährige Ich-Erzähler tagein tagaus, während rundherum seine heimelige Welt zerbricht. Es ist Mitte der 1980iger Jahre und seine Eltern wie auch sein Bruder kommen bei zwei Autounfällen ums Leben. Die letzte Hiobsbotschaft erreicht ihn, während er halb narkotisiert auf seine Weisheitszahn-Operation wartet und eine Nonne ihm die schwerwiegenden Neuigkeiten überbringt.
Ein skurriles Bild wie aus einem dieser französischen Filme, bei denen man nicht weiß, ob man nun lachen oder weinen soll. So beschließt der Vollwaise nach einer betrunkenen Nacht mit seiner Ex-Freundin Laure und seinem besten Freund Samuel eine Reise zu machen. Ziel: Der von Lloyd Cole besungene Morro Bay in Kalifornien. Und schon beginnt ein verschlungener Roadtrip durch die Fassaden des amerikanischen Traums auf der Suche nach den Farben des Lebens, die dem traumatisierten Erzähler dem Anschein nach für immer abhanden gekommen sind.
Die Suche und deren Aufarbeitung
"Man berührt mich am Ellbogen, streicht mir über den Arm, unterdrückt die Tränen, sag mir, dass ich tapfer bin, dass es ja weitergehen muss, nicht wahr? Ich gebe keine Antwort. Lasse alles an mir abprallen. Ziehe weiter Bahnen in meinem inneren Schwimmbecken und achte darauf, dass meine Augen nicht rot werden vom Chlor."
(Auszug aus "Zweiundzwanzig" von Jean-Philippe Blondel)
Jean-Philipp Bondel hat wirklich seine Eltern und seinen Bruder verloren. Natürlich hat er schon öfter in Gedanken damit gespielt, seine Geschichte aufzuschreiben. Aber die Zeit, die es braucht, um mit Abstand sich noch einmal in solch ein erschütterndes Erlebnis hinein fühlen zu können, dehnte sich immer weiter aus.
Jean-Luc Paillé
Von der ersten Zeile an spürt man, dass der französische Autor ganz in die Gefühlswelt der Vergangenheit eintauchen musste, um diese knapp formulierte, schlichte Essenz jener Zeit zu Papier zu bringen. Das tut er nicht etwa mit schwülstigen Umschreibungen, oberklugen Lebensweisheiten oder vor Sentimentalität triefender Melancholie. Vielmehr ist "Zweiundzwanzig" ein sehr reduziertes Buch, dass seine Magie aus der Verschränkung von Erinnerungen herausdestilliert. Die literarische Stärke liegt bei Bondel oft in Beschreibungen kleiner Details, mit denen er große Bilder im Kopf entstehen lässt. Das Spiel mit Farben wird zu einer essentiellen Sprache, einer berührenden Analogie für eine verzweifelte Suche nach dem Sinn eines vom Schicksal scheinbar zerstörten Lebens.
Es wäre kein französischer Roman, würde sich nicht die innere Zerrissenheit des Erzählers in der liebevoll beschriebenen Dreiecksbeziehung der Ex-Freundin und des besten Freundes widerspiegeln. Doch das alles erzählt Jean-Philipp Blondel, ohne Klischees bedienen zu müssen. Behutsam und mit viel Feingefühl lässt er seine drei Reisenden in den Irrungen und Wirrungen ein Stück mehr zu sich selbst kommen. Auch was die Haltestellen wie San Diego, Death Valley, Las Vegas oder Tijuana betrifft, spart Bondel die kollektiven, stereotypischen Bildern aus und gewährt uns durch die Augen seines Erzählers einen ganz eigenen Blick auf diese Orte.
Jean-Philipp Bondel ist mit "Zweiundzwanzig" ein tiefgründiger Roman geglückt, der trotz traumatischer Erinnerungen, quälender Sinnfrage und dem verzweifelten Versuch, wieder Glück und Freude zu spüren, viel Hoffnung in sich birgt. Mit seinem kunstvollen Wechsel zwischen humorvoller Leichtigkeit und zu Herzen gehender Poesie hallt die dichte Atmosphäre dieses Buches noch ganz lange im Kopf und im Bauch nach.