Erstellt am: 21. 6. 2014 - 06:00 Uhr
Torjubel mitten im Trubel
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Auch in Berlin kommt man um die WM nicht mehr herum, und wer sich eigentlich nicht so sehr für Fußball interessiert, aber doch irgendwie an dieser allgemeinen Aufgeregtheit teilhaben will, muss sich was überlegen, um sich während der 90 und mehr Spielminuten sinnvoll zu beschäftigen.
Da bietet sich das Phänomen des Torjubels an, ist darüber doch bislang in der Fußballforschungsliteratur noch nicht hinreichend gearbeitet worden.
Den Torjubel, also die Freude des Spielers nach dem von ihm erzielten Tor, hat man bislang noch nicht mal ordentlich systematisiert!
Bei dieser wichtigen Aufgabe kann uns wie so oft im Leben die griechische Säftelehre, die Humoralpathologie, weiterhelfen. Gemäß dieser Lehre bestimmt das Verhältnis der Körpersäfte das Temperament des Menschen. Die vier Säfte werden dabei vier Organen, vier Eigenschaften zwischen Wärme und Feuchtigkeit, vier Jahreszeiten und vier Lebensphasen zugeordnet.
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Beim Melancholiker überwiegt demnach die schwarze Galle, beim Sanguiniker das Blut, beim Choleriker ist es die gelbe Galle und beim Phlegmatiker der Schleim. Diese vier Temperamente lassen sich wiederum auf die Erscheinungsformen des Torjubels übertragen.
Am weitesten verbreitet ist der sanguinische Torjubel: Zu ihm zählen die bewegungsfrohen Aktionen: der Hechtsprung über die Werbebande, der wilde Slalomlauf, das Tanzen an der Seitenfahne.
Beliebt ist auch die kleine Bodenkür: Hier tat sich Klose (D) mit seinem freien Überschlag ohne Bodenkontakt (Salto) hervor und Robbie Keane (Irland) mit dem Radschlagen und abschließendem Purzelbaum. Das war aber nix gegen Julius Aghahowa (Nigeria), der 2002 in Japan nach seinem Tor gegen Schweden mit seinem siebenfachen Flic-Flac plus Salto aus dem Stand neue Maßstäbe gesetzt hat. Innovativ ist auch die von den Senegalesen ebenfalls 2002 nach einem Tor gegen Frankreich eingeführte Version: Der Tanz um das T-Shirt. Das Tanzen an der Eckfahne hingegen wurde von Kameruns Fußball- Idol Roger Milla bereits 1990 in Italien eingeführt. Davon abgesehen ist der sanguinische Torjubel recht einfallslos: Arme weit ausbreiten und übers Spielfeld laufen.
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Melancholiker können sich nicht freuen, trauen dem Tor nicht, sehen auch in Erfolgen nur Schwierigkeiten. Nach einem Tor verbergen sie ihr Gesicht in den Händen oder winken depressiv ab, am liebsten würden sie in den Boden versinken. Melancholischer Torjubel ist oft nach einem Eigentor zu beobachten.
Bezeichnend für den Choleriker war bei früheren Weltmeisterschaften der Trikot-Striptease in allen Variationen. Neben dem einfachen Trikot-Ausziehen gab es noch die Verbreitung von Unterhemd-Nachrichten und das-Trikot –durch-die-Luft- Wirbeln von Rivaldo.
Für diese Form des Torjubels liefert uns die Biologie schöne Erklärungen. Die archaische Geste könnte auf primatenhaftes Imponiergehabe zurückgehen. Das Trikot ausziehen heißt den Panzer ablegen, die nackte stolzgeschwellte Brust sagt: Ich bin unverletzlich. Das über den Kopf gezogene T-Shirt ergänzt: Sogar blind und nackt bin ich noch der Sieger.
Ferner gehören zum cholerischen Torjubel: Brüllen, Faust recken, schreiend weglaufen, wild grimassieren, am Trikot reißen, herrisch und auf die eigene Trikotnummer zeigen (Beckham wegen Traumaüberwindung), wütende Fußtritte auf die Werbebande.
Der Phlegmatiker unter den Fußballern schießt selten Tore, aber wenn es doch zufällig dazu kommt, läuft er weg und wartet, bis die Mitspieler sich zum einfachen oder doppelten Huckepack-Jubel auf ihn stemmen. Auch dem beliebten „Körperberg“ geht oft die Flucht des sich dem Torjubel verweigernden Phlegmatikers voraus.
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In der Standardsituation legt sich der phlegmatische Spieler auf den Rasen, die anderen legen sich kreuz und quer auf ihn und bilden so eine Wärmepyramide, wie es Tierbabys tun, wenn die Mutter das Nest verlässt. Bei den Italienern wird der Körperberg, von der zärtlichen Dreiergruppe bis zum großen Umarmungskreis, oft im Stehen ausgeführt.
Natürlich gibt es auch Mischformen. Der religiöse Torjubel offenbart sich durch das Bekreuzigen und Niederknien, manchmal werden kurze Dankes-Stoßgebete gesprochen. Die muslimische Variante konnte dieses Mal beim Spiel Algerien gegen Belgien beobachtet werden, als sich die algerischen Spieler nach dem Tor an der Seitenlinie versammelten, gemeinsamen niederknieten und wie beim rituellen Gebet den Kopf zur Erde neigten.
In unserer Beurteilung gilt der religiöse Torjubel als sanguinisch-phlegmatisch. Denn er ist einerseits Ausdruck von Lebensfreude, andererseits kann sich auch eine phlegmatisch-fatalistische Haltung dahinter verbergen: „Der da oben hat‘s gerichtet“. Der Mensch denkt, aber Gott lenkt.
Der sanguinisch-cholerische Torjubel tritt auf, wenn die Spieler ihre Gefühle nicht zeigen und nur in kleinen, zärtlichen Gewalttätigkeiten kundtun können. Dazu zählt das spaßhafte Erwürgen des Torschützen, oder wenn der Torschütze zur Belohnung in den Schwitzkasten genommen wird. Die Japaner reißen sich gerne an den Köpfen.
Die WM 2014 fiel bislang nicht durch besonders innovative Torjubel auf. Die Amerikaner beten gern, die Kolumbianer bejubeln ihre Tore sanguinisch-tänzerisch an der Seitenlinie durch eine liebevoll einstudierte Choreographie.
Immerhin, Costa Ricas Joel Campbell steckte nach seinem Tor den Ball unter sein Trikot, was allgemein als stolze Geste des werdenden Vaters interpretiert wird. Aber diese Variation des sanguinischen Torjubels geht auf die altbekannte „Baby- Wiege“ zurück. Eingeführt wurde sie bereits bei der WM 1994 in den USA vom brasilianischen Superstar Bebeto.
Eine neue Variante haben hingegen die glücklosen Engländer geliefert:
Beim sanguinischen Torjubel brach sich deren Physiotherapeut Gary Lewin den Knöchel und musste die Heimreise antreten. Dass die englische Mannschaft ihm bald nachfolgen wird, ist dabei bestimmt nur ein schwacher Trost.