Erstellt am: 19. 6. 2014 - 20:20 Uhr
The daily Blumenau. WM-Journal '14, Eintrag 40.
Das ist das WM-Journal '14, die einzige seit Jahren schon live unternommene strategisch-taktische Einschätzung der Matches in Österreich.
Tag 7 brachte Kamerun - Kroatien, Australien - Niederlande und Spanien - Chile.
Tag 6: mit dem ersten Spiel der 2. Runde, Brasilien - Mexiko, dann noch mit Belgien - Algerien und Russland - Südkorea.
Tag 5 hatte Deutschland - Portugal, die erste Nullnummer bei Iran- Nigeria und dann noch Ghana - USA.
Tag 4 brachte die Schweiz - Ecuador, dann Frankreich - Honduras und schließlich das denkwürdige Argentinien - Bosnien.
Das sind die Spiele von Tag 3: Kolumbien - Griechenland & Uruguay - Costa Rica & Italien - England & Cote d'Ivoire - Japan.
Das war die Eröffnung mit Brasilien gegen Kroatien und die Spiele von Tag 2: Mexiko - Kamerun, Spanien - Niederlande und Chile - Australien.
Vorab-Einschätzungen der 32 Teilnehmer: England, USA und Australien - Belgien und die Niederlande - Cote d'Ivoire, Kamerun, Ghana und Nigeria . Frankreich und Algerien - Deutschland - Argentinien und Uruguay - Russland, Kroatien, Bosnien, Griechenland - Iran, Japan, Süd-Korea - Mexiko, Costa Rica und Honduras - Brasilien - Italien und die Schweiz - Kolumbien, Ecuador und Chile - Spanien und Portugal
Das WM-Journal ist Teil des daily blumenau, das seit Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst hat. Mit Items aus diesen Themenfeldern.
Irgendwo am Beginn dieses Textes steht der Satz: "Ich kann und mag mir keinen anderen Gewinner als England vorstellen."
War ernst gemeint. Konnte ich nicht.
Ich will nicht in den Komplett-Personalisierungs-Diskurs einsteigen und den Sieg der Urus an Luis Suárez allein festmachen. Das würde zu wenig tief greifen.
Tabárez hat seinen Schatten übersprungen und seine antiquierte Doppel-Sechs aufgelöst - und konnte so temporär immer einen dritten Mann für die Sturmspitze mitschicken; ohne die Defensive - in der man fix 4-4-2 stand - zu vernachlässigen. Das ist nicht mehr das hyperflexible, asymmetrische Spiel von 2010, aber immerhin eines, mit dem man mithalten kann.
Vor allem gegen heute wesentlich vorsichtigere, angstbesetztere Engländer. Ist es wirklich so, wie der Boulevard es im Vorfeld diktiert hat, dass sich alle, quasi auf Befehl, vor Suárez in die Hose machen mussten? Und wenn ja, warum dann auch die Offensive? Die Kerle, die Italiens Abwehr Kopfweh besorgten, waren heute zu deutlich weniger imstande.
Dazu kam dann noch das erwähnte Hodgson-Dilemma. Im Gegensatz zum anderen Coach traute er sich seinerseits nicht einmal seine Doppel-Sechs während des Spiels aufzulösen. Das war wieder der alte konservative Hodgson, der seinen Mut in seinen 50ern gelassen hat.
All dies zusammengenommen (und auch das Glückstotem Suárez, an dass die Urus mit voodooesker Seriosität glaubten) verschaffte der Mannschaft, die im Kopf eigentlich schon draußen war, zu neuem Mut; und es brachte die Mannschaft, die alle Vorteile auf ihrer Seite hatte, aber kaum einen davon abzurufen verstand, auf die Verliererstraße.
Trotzdem schön das Rooney-Tor; auch wenn mir die Lattenkopf-Aktion besser getaugt hat. Sein Team hat zwar weiterhin theoretische Chancen, aber (siehe weiter unten warum) für mich ist Uruguay jetzt durch.
England kann trotzdem ins EM-Finale 2016 kommen.
Und dann kommt der Luis Suárez-Moment (77. - 95. Min)
England legt nach, nützt die plötzliche Verwirrtheit des Gegners, drückt in plötzlicher Überzahl in den Strafraum.
14 Fucile kommt (77.) für Álvaro González, das ist kein mutiger, sondern ein absichernder Wechsel: Rechtsverteidiger rein für rechten Mittelfeldspieler.
Ist das schlau?
Nur nochmal zur Erklärung: bei einem Remis sind die Engländer im Match gegen Costa Rica Herren ihres eigenen Schicksals, Uruguay müsste gegen Italien um sein Leben betteln.
Das sorgt für das Comeback der uruguayanischen Angriffsbemühungen. Es entsteht wieder eine kleine Druckphase, und es kommt wieder zu einem Suárez-Moment. Er kriegt in der 85. einen Ball - eher per Zufall - von ganz weit hinten, entkommt Cahill problemlos und verwertet zum 2:1.
Jetzt noch mehr Hektik. Und noch je ein Wechsel: 18 Lambert für 14 Henderson, jetzt dann doch. Und 19 Coates, ein Verteidiger für 9 Suárez, der sich raustragen lassen muss.
Noch einmal fünf Minuten Zeit und Druck für die englischen Spieler. Lambert ist kein Techniker. Das wird nix mehr.
... und dann kam da der Rooney-Moment (62. - 76.Min)
Mit einer Niederlage wäre England weg. Drauf zu hoffen, dass Italien jetzt alle Spiele gewinnt, und man gegen Costa Rica über die Tordifferenz durchkommt, ist ein Trugschluss. Italien wird sich gegen Uruguay mit einem Remis begnügen und somit die in die K.O.-Runde mitnehmen.
Gerrard fängt sich gelb ein.
Uruguay holt (66.) 14 Lodeiro runter und bringt 11 Stuani - kein wirklich defensiver Wechsel. Richtig so. Stuani, 27, gilt im überwutzelten Kader als frische junge Kraft.
Die frischen Flankenläufe des Italien-Spiels, wohin sind sie versickert? 20 Lallana kommt für 11 Welbeck an der linken Flanke (70.)
Hodgson bleibt im System. Sein Problem ist: Henderson ist heute gut, Gerrard runterzunehmen traut er sich nicht, erstens weil er der Skipper ist und so, und zum anderen kann er auch Standards. Irgendwie nachvollziehbar. Also bleibt alles so wie es ist.
Und es klappt trotzdem, die 75. Minute ist eine historische: Wayne Rooney macht sein erstes, lange erwartetes, lang verdientes WM-Tor. Rooney rutscht in einem Ball, den schon Glen Johnson im Rutschen spielt, alles nach einem herzblutendem Angriff.
Das alte Uruguay trifft auf den alten Roy Hodgson (46. - 61.Min)
Wieder beginnt eine Halbzeit mit Joe Hart - und diesmal rettet er bei einer weiteren Spitzwinkel-Chance gut. Uruguay hat den Beginn unter Kontrolle und sucht die schnelle Entscheidung. Nach dem 1:0 gegen den Spielverlauf wäre das jetzt nämlich der zweite Nackenschlag.
England reagiert verhalten, fast gelähmt. Seltsam. Da war gegen Italien deutlich mehr Biss drin. Jetzt liegt es an Rooney den agressive leader rauszukehren.
Er weiß das und sorgt mit einer weiteren tollen Torchance (einem Schuss aus fünf Metern, den Muslera toll wegbringt) für die Verlagerung des Spiels wieder vor das gegnerische Tor. Dort steht Uruguay jetzt sehr dicht - mit zwei Viererketten; hat wieder dieses Umswitch-Gen drauf, braucht jetzt die letzte Restluft von 2010 auf.
Barkley kommt, hoffentlich wieder für Henderson, anderes wäre doch nicht sinnv... Hodgson bringt ihn für Sterling (61.), will es tun, muss warten, weil zeitgleich Álvaro Pereira nach Kontakt mit Sterlings Knie kurz ohnmächtig ist. Er kommt schnell wieder zu sich, aber hat danach seltsame Aktionen. Drei Minuten nach dem Plan wird der Tausch dann abgeführt, England bleibt im System sieht keinen Grund für Risiko. Das ist wieder der alte Roy Hodgson...
... und der Rest der ersten Halbzeit
Die zweite Viertelstunde sehe ich nur partiell, sorry.
Mein Komplett-Wiedereinstieg ist der Rooney-Lattenkopfball in der 31. Minute nach dem Links-Freistoß-Cross von Gerrard.
Ich sehe die Engländer bemühter, aggressiver, williger.
Ich sehe aber auch, dass Uruguay sich neu aufgestellt hat, mit verstärktem Außenspiel mit zwei sehr flexiblen Spitzen, mit drei Offensivkräften im Mittelfeld, von denen immer eine mit in die Spitze geht.
Und dann sehe ich den Suárez-Treffer in der 41. Minute und muss sagen: schön gemacht, gut herausgespielt, guter Assist, das war das alte Uruguay von vor vier Jahren. Und nein, es war nicht ein Rückfall ins alte England, der das zugelassen hat, sondern ein nicht zu vermeidender Gegentreffer Marke Suárez.
Das neue England bleibt am Drücker, reagiert auf diesen Rückstand wie auf den gegen Italien: bangemachen-lassen gilt nicht. Für die zweite Hälfte erwarte ich den Einsatz von ein, zwei neuen Kräften.
Die Anfangs-Viertelstunde...
Ich mag nicht schon wieder über Joe Hart lästern - aber er macht es mir nicht leicht; ewige Unsicherheiten, Almer-mäßig. Die Celeste drängt früh los, sie muss ja.
Cáceres spielt wie erwartet RV, Álvaro Pereira links. Álvaro González ist rechts im Mittelfeld und mit Lodeiro hat Tabárez jetzt einen offensiven Mann in der Mittelfeldzentrale, ist von seinem flachen 4-4-2 also abgewichen, auf eine Raute umgestellt. War dringend nötig, nur so ist England etwas entgegenzusetzen. Suárez spielt leicht versetzt hinter Cavani.
England wie gehabt im 4-2-3-1 mit allen Freibriefen für die vorderen vier. Mählich sagt, er habe Rooney im ersten Spiel links gesehen.
Godín kriegt eine Gelbe für Hands, England einen gefährlichen Freistoß (10.): Rooney setzt ihn knappest vorbei. Ebenso wie Rodríguez seine Granate in der 15.
Die Aufstellungen
Uruguay - in blau/schwarz - hat umgestellt, massiv, auf gleich 5 Positionen.
1 Muslera; 22 Martin Cáceres, 13 Giménez, 3 Godín (K), 6 Álvaro Pereira; 20 Álvaro González, 14 Lodeiro, 17 Arévalo Ríos, 7 Cristian Rodríguez; 21 Cavani, 9 Luis Suárez.
Luis Suárez ist also wieder fit, Lugano wird verletzt fehlen, ihn ersetzt Giménez von Atletico Madrid, der einzige junge Spieler im Kader. Diego Godín, nicht Diego Forlan, der gar nicht spielt, ist der Kapitän. Den gesperrten Maxi Pereira wird nicht Fucile ersetzen: Cáceres dürfte nach rechts rutschen, Alvaro Pereira links.
England spielt wie im ersten Match und in weiß mit
1 Joe Hart; 2 Glen Johnson, 5 Gary Cahill, 6 Jagielka, 3 Baines; 14 Henderson, 4 Gerrard (K); 20 Sterling, 10 Rooney, 11 Welbeck; 9 Sturridge
Belastet sind Cáceres bzw Sterling.
Spielort: Arena Corinthians, São Paulo, Schiri ist der einzige Spanier mt Chancen auf ein Weiterkommen, Velasco Carballo.
Was vor dem Match zu sagen ist
Nachdem Italien sich nach menschlichem Ermessen gegen Costa Rica durchsetzen wird, entscheidet sich in diesem Match schon einiges vor. Und die Ausgangspositionen für dieses finalähnliche Duell sind deutlich bezogen.
Uruguay hat im ersten Match unendlich enttäuscht. Aber, und das möchte ich nicht müde werden zu betonen, das mit Ansage; mit einem ordentlichen Anlauf. Uruguay ist die wohl einzige Mannschaft dieser WM, die sich seit 2010 nicht einen Zentimeter entwickelt hat. Im Gegenteil: dadurch dass alle Proponenten jetzt vier Jahre älter und (da sie schon damals keine Jungspunde mehr waren) auch nicht besser geworden sind, verfügt Oscar Tabárez' Team auch nicht mehr über das variantenreiche Spiel von Südafrika, sondern gfrettet sich mit einem mittlerweile einförmigen, zunehmend unsauberer gespielten System durch, in dessen Zentralen sich die Unbeweglichkeit manifestiert: die Ache Lugano - Arevallo - Forlan bringt gefühlte 110 Jahre und kein Tempo mehr auf die Waage.
Das alles trug die Hauptschuld an der zurecht erfolgten Auftakt-Niederlage gegen Costa Rica, ich hatte mit denm Einrbruch erst ab Spiel zwei gerechnet - und war damit deutlich zu optimistisch.
Aus diesem finsteren Tal sehe ich keine Möglickeit des Entkommens. Während des Turniers. Nachher ist ein dramatischer Neuaufbau möglich, nötig und willkommen.
Uruguay bestritt Match 1 mit 1 Muslera; 16 Maxi Pereira, 2 Lugano (K), 3 Godín , 22 Cáceres; 11 Stuani, 5 Gargano, 17 Arevalo Rios, 7 Rodríguez; 10 Forlan, 21 Cavani - Superstar Luis Suárez fehlte wegen Verletzung. Zwischenzeitlich ist Bobby, nein Diego Lugano angeschlagen, Maxi Pereira ist gesperrt.
England hat trotz der Niederlage gegen Italien überzeugt.
Zum einen weil sie Teilnehmer des hochwertigsten Spiels dieser WM waren, zum anderen, weil sie es gegen den einzigen stabilen Faktor unter allen Turnier-Favoriten offenhalten konnten, ein gleichwertiger Partner waren.
Das ist angesichts der Erwartungen in der englischen Heimat schon sensationell - denn dort wurde der Mannschaft ja die Fähigkeit überhaupt in dieser Gruppe zu bestehen, abgesprochen.
Davon kann nicht mehr die Rede sein - es ist sogar leise Begeisterung über den jugendlichen Sturm und Drang, den dieses um Wayne Rooney herum neu formierte Team auf den Platz stellt. Das war in punkto Flexibilität und Variantionsbreite aller Ehren wert.
Coach: Roy Hodgson hatte in Spiel 1 mit 1 Hart; 2 Glen Johnson, 5 Gary Cahill, 6 Jagielka, 3 Baines; 14 Henderson, 4 Gerrard (K); 20 Sterling, 10 Rooney, 11 Welbeck; 9 Sturridge gespielt und wird wohl wenig ändern. Und auch Barkley, Wilshere und Lallana, die Einwechsler, hatten gute Figur gemacht. Oxlade-Chamberlain ist immer noch nicht bereit.
Hodgson hat weniger einen System- als vielmehr einen Zugangs/Attitude-Wechsel zugelassen, dem sder nächste, vielleicht sogar schon letzte Schritt (die Abnabelung von Steven Gerrard) noch bevorsteht. Ashley Cole und Lampard jedenfalls sind schon draußen.
Und: eigentlich kommt diesem frischen Team ein alternder, bereits gedankenlangsamer und reaktionsschwacher Gegner gerade recht. Es müsste da schon mit dem bekanntlich nie schlafenden Teufel zugehen. Aber ich kann und mag mir keinen anderen Gewinner als England vorstellen.