Erstellt am: 18. 6. 2014 - 03:50 Uhr
The daily Blumenau. WM-Journal '14, Eintrag 35.
Das ist das WM-Journal '14, die einzige seit Jahren schon live unternommene strategisch-taktische Einschätzung der Matches in Österreich.
Die Gesamtübersicht.
Das waren die zwei Erstrunden.Matches des Abends/der Nacht: Belgien - Algerien und Russland - Südkorea
Tag 5 hatte Deutschland - Portugal, die erste Nullnummer bei Iran- Nigeria und dann noch Ghana - USA.
Tag 4 brachte die Schweiz - Ecuador, dann Frankreich - Honduras und schließlich das denkwürdige Argentinien - Bosnien.
Das sind die Spiele von Tag 3: Kolumbien - Griechenland & Uruguay - Costa Rica & Italien - England & Cote d'Ivoire - Japan.
Das war die Eröffnung mit Brasilien gegen Kroatien und die Spiele von Tag 2: Mexiko - Kamerun, Spanien - Niederlande und Chile - Australien.
Vorab-Einschätzungen der 32 Teilnehmer: England, USA und Australien - Belgien und die Niederlande - Cote d'Ivoire, Kamerun, Ghana und Nigeria . Frankreich und Algerien - Deutschland - Argentinien und Uruguay - Russland, Kroatien, Bosnien, Griechenland - Iran, Japan, Süd-Korea - Mexiko, Costa Rica und Honduras - Brasilien - Italien und die Schweiz - Kolumbien, Ecuador und Chile - Spanien und Portugal
Das WM-Journal ist Teil des daily blumenau, das seit Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst hat. Mit Items aus diesen Themenfeldern.
Für Menschen wie mich, die aus der Unordnung der Dinge Kraft und Erkenntnis schöpfen, ist Übersichtlichkeit ein schöner exotischer Vogel, dessen Gesang ich gerne höre.
Mir wäre also lieber, wenn nach den 16 Spielen, dem ersten Auftreten aller Teams, sowas wie ein Break wäre, um alles einmal sacken zu lassen.
So was geht bei einer WM nicht, der Plan ist zu eng. Ich muss mir diese kurze Auszeit also jetzt, mitten in der Nacht nehmen.
1) die Top-Favoriten
Die haben enttäuscht, versagt, sind den Ansprüchen nicht gerecht geworden oder wurden gar nicht erst gefordert.
Das größte Entsetzen hat mir Argentinien bereitet, vor allem mit der ersten Halbzeit im peinlichen Otto-Baric-Gedächntnis-Riegel, einem 5-3-2 der ganz üblen Sorte. Die nachträglichen Rechtfertigungen, dass es Sabellas dumme Idee war, die Messi dann in der Halbzeit nicht so lässig fand, weshalb dann back to normal geschaltet wurde, machen den Vorfall nicht weniger peinlich. Denn wie a) kommt ein Coach auf so eine Idee, wieso b) muss sein Starspieler und Kapitän eine Halbzeit warten, um abzuchecken, dass es ihm nicht taugt und wieso c) wird die Arbeitsverweigerung Messis in Halbzeit 2 dann nur partiell aufgehoben? Das war die größte Verfehlung seit Maradonas Doping-WM 1994 und wird Argentinien wie nicht weg zu kriegende Scheiße am Schuh durch das Turnier verfolgen.
Real, Atlético und Sevilla haben den Titel, Spanien aber hat ihn abgegeben. Weil Casillas, Pique, Ramos, Xabi Alonso und Xavi, also die Chefs der Clans, ihre Konzentrationsfähigkeit nicht ins Unendliche ausdehnen können und nach Jahren des perfekten Funktionierens einen kollektiven Aussetzer nahmen, just zum gleichen Zeitpunkt, zum Match gegen Holland. Ich denke nicht, dass Spanien da noch zurückkommen kann; es geht dem Team jetzt wie dem Mörder, der gestanden hat - man ist froh, dass es vorbei ist, dass man nicht mehr mit dem Dauerdruck, alles perfekt im Griff zu haben, leben muss, Tag für quälend' Tag.
Brasilien hat sich gegen Kroatien nicht mit Ruhm bekleckert (und die naja-so-lala-Leistung ja auch schon im quasi vorgezogenen zweiten Spiel bestätigt, das ich aber eigentlich nicht einfließen lassen sollte, egal...). Die Seleção scheint mir aber auf interessante Art taub, oder zumindest Warnschuss-resistent zu sein. Das ist dann gut, wenn man die Qualität hat um durch zu marschieren und sich nur an Druck von außen aufreiben kann. Team Brasil '14 hat diese Qualität aber nicht wirklich.
Ob sie Deutschland hat, kann ich nicht beurteilen, niemand kann das, eigentlich. Das Drittel-Spiel da gegen Portugal als Gradmesser? Ich bitte euch... Ein günstiger Matchverlauf hat eine Menge an Problemen übertüncht. Ja, die deutschen Mainstream-Medien wollen das nicht sehen, sondern endlich das Sommermärchen '06 nachgereicht bekommen. Wäre mir recht, aber die Gefahr eines Erwachens zum ungünstigen Zeitpunkt, dann nämlich, wenn es nicht so glatt läuft und man diesbezüglich unvorbereitet in einen fitten Gegner rennt, ist groß. Und das Gejeier, das dann erfolgt, mag ich jetzt schon nicht hören müssen. Also: möglich ist es, aber nur mit gesund-realistischer Einschätzung des bislang noch geringen Leistungsbeitrags.
2) die üblichen Verdächtigen
Das ist das erfreulichste Kapitel. Ich habe drei Mannschaften gesehen, die mein Fußball-Herz hüpfen ließen, ein wenig zumindest. Zwei davon sind auf einem guten Weg für 2016 oder '18, eine kann schon heuer zuschlagen.
Denn die bislang beste Leistung, was kluges Spiel, gscheite Strategie, Attraktivität und klasse individuelle Leistungen betraf, kam von Italien; und die können immer. Auch in außerkontinentalen WM-Finalspielen. Cesare Prandelli hat mit einem asymmetrischen Schmäh gepunktet, mit einem völlig Neuen namens Darmian auf der rechten Seite und mit dem formschönsten Tannenbaum (4-3-2-1) des Turniers. Und er hat zum wohl besten der bisherigen Spiele zumindest 50% beigetragen.
Der Gegner war auch toll -Team England. Um jetzt aber einen Titeltipp abzugeben, bei dem mir alle den Stirnvogel tippen werden: ich würde, wäre ich Gambler, mein Geld jetzt auf England setzen. An die denkt nach dieser Niederlage keiner, die Qualität wäre aber da und das Glück kann ja auch ein Vogerl sein, ein anderes.
Nein, im Ernst: diese neue, jugendlich-forsche Mischung, die Roy Hodgson da zuließ, hat Potential, hat Zukunft. Kreatives rochierendes, zutiefst europäisches Offensiv/Flügelspiel, quicke Angreifer - das wird ein Konkurrent für die Euro 2016.
Die findet ja in Frankreich statt, und die Hausherren sehe ich jetzt schon als größten Konkurrenten. Frankreich hatte zwar einen leichten Gegner, aber auch solche müssen hier erst einmal besiegt werden, und außerdem war das Wie entscheidend. Und das mit wem oder besser das ohne wen. Ohne Ribery z.B. kommt gar nicht so schlecht. Wie auch ohne Eto'o und ohne Drogba gut kommt, und ohne Gerrard auch schön wird, und wie vielleicht sogar ohne Messi was bewirken könnte. Auch Frankreich greift asymmetrisch rechtslastig an und bewirkt so was. Reife Leistung.
An die hochgejubelten Holländer glaube ich weiter nicht; und auch wenn ich mich da in der unangenehmen Gesellschaft von Spaß-Experten Schinkels befinde, muss ich dabei bleiben: das war womöglich nur ein Glückstreffer. Das hat nichts mit dem System zu tun: zu uninspiriert wird es exekutiert, mit der Variationsbreite eines Ein- okay, eine Zweizellers. Da müsste bis zum nächsten Match eine Menge passieren.
Ähnliches, aber auch andere Gründe gelten für Portugal. Die sind, wie ihre Nachbarn, in einem einzigen Spiel so krummgeschossen worden, dass es einer inneren Stärke sondergleichen bedarf, um aus diesem Quicksand noch zu entkommen. Es könnte die größte Leistung des von vielen Neidern verfemten Kapitäns sein, sollte dies gelingen. Ich kann mir aber vorstellen, dass hier noch Land in Sicht ist.
3) Die Geheimfavoriten
Am Nachmittag hat sich Belgien gerade noch einmal erfangen. Und damit den Dreiklang komplettiert. Denn alle drei Mannschaften, die seriöserweise als Murmel-Tipps kursiert sind, haben ihre Auftaktspiele mit partiell bravourösen Leistungen absolviert. Chile und Kolumbien haben für jeweils eine Viertelstunde sogar einen Zauberfußball gezeigt, der einen das Atmen vergessen lässt. Bis zu einer tatsächlichen Chance auf das Viertelfinale ist es aber noch ein weites Stück.
Wer ohne groß nachzuchecken auch Ecuador und Uruguay auf dieser Liste hatte, ist ärmer dran. Erstere sind noch nicht so weit, zweitere in ihrer Überreife schon weit weit drüber.
4) Der gute Rest...
Angenehm überrascht haben Mexiko und Costa Rica, mit denen nicht wirklich jemand rechnen musste. Vor allem erstere sind (das exzellente zweite Spiel im Sinn) auf einem Rehabilitierung-Kurs. Honduras kriegt diese Chance vielleicht auch noch.
Gut verkauft haben sich die USA (der Sieg gegen Ghana mag ungerechtfertigt sein, die physische Präsenz war aber mehr als okay) und Australien, mit denen ja gar keiner gerechnet hat.
Auch nicht so schlecht ist die Lage für Kroatien und Bosnien, die mit Niederlagen gegen die lokalen Supermächte noch nichts verloren haben; das Aufgabe-Gebahren der einen gibt mir aber ebenso zu denken wie die Personal-Schwäche der anderen.
Irgendwie komisch fühlt sich die Schweiz an; von Griechenland und Russland gar nicht erst zu reden.
Japan und Korea sind interessanterweise merklich blasser rübergekommen als der Iran, dessen meisterliche Defensiv-Leistung zumindest eindrücklich war.
Bleibt schlussendlich das Quintett aus Afrika. Da hat niemand überzeugt. Am ehesten noch Algerien, auch durch die kraftvolle strategische Leistung, trotz Niederlage. Oder auch Ghana, wegen ihres unbeugsamen Anrennens gegen ein unbarmherziges Schicksal. Nigeria war nicht imstande einen Außenseiter zu biegen und Kamerun hat sich einfach aufgegeben.
Und die einzigen, die das Achtelfinale sehen werden, kriegen das auch nur als Kompensation für '06 und '10, wo eine schirche Auslosung das verhindert hat. Dabei ist es für die Elfenbeinküste jetzt einfach zu spät. Schade.
5) ... und andere mehr
So viele aufgeholte Rückstände... Brasilien, Holland, Elfenbeinküste, Costa Rica, Schweiz, Belgien, fast die Hälfte aller Spiele spottet die Regel, dass die Mannschaft, die das erste Tor macht, gewinnt, Hohn. Gefällt mir gut.
Jetzt schon sichtbare Irrtümer. ich habe die USA wirklich, Australien ein wenig unterschätzt, Mexiko nicht so schnelle Heilung zugetraut, Japan und Südkorea eine Spur zu gut eingeschätzt, Nigeria und Ghana zuviel, Algerien zu wenig zugemutet.
Die kapitalen Böcke von Spanien und Argentinien hatte wohl niemand weltweit (in dieser Dimension) auf der Rechnung. Alles andere passt schon.
Aktuell logischer Finaltipp: Deutschland oder Frankreich - Italien.