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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

14. 6. 2014 - 23:26

The daily Blumenau. WM-Journal '14, Eintrag 24.

Der längste Tag - Spiel 3, und wieder in der Not-Version vom geborgten Gerät aus: der Mitternachtsgipfel der europäischen Altmächte #ENGvsITA

Das ist das WM-Journal '14 die einzige seit Jahren schon live unternommene strategisch-taktische Einschätzung der Matches in Österreich - weil nachher kanns jeder besser wissen.

Hier die Gesamtübersicht, die Eröffnung mit Brasilien gegen Kroatien und die gestrigen Spiele: Mexiko - Kamerun, Spanien - Niederlande und Chile - Australien.

Einschätzung der 32 Teilnehmer: England, USA und Australien - Belgien und die Niederlande - Cote d'Ivoire, Kamerun, Ghana und Nigeria . Frankreich und Algerien - Deutschland - Argentinien und Uruguay - Russland, Kroatien, Bosnien, Griechenland - Iran, Japan, Süd-Korea - Mexiko, Costa Rica und Honduras - Brasilien - Italien und die Schweiz - Kolumbien, Ecuador und Chile - Spanien und Portugal

Das WM-Journal ist Tei des daily blumenau, das seit Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst hat. Mit Items aus diesen Themenfeldern.

Nach der unerwarteten Niederlage von Uruguay gegen Costa Rica können England und Italien um einiges ruhiger an den Start gehen: die Celeste ist gebrochen, die Ticos werden ihren Rausch wohl nicht prolongieren können - gute Nachrichten für die beiden da im Hitzetopf in Manaus.

England in weiß spielt mit
1 Hart; 2 Glen Johnson, 5 Gary Cahill, 6 Jagielka, 3 Baines; 14 Henderson, 4 Gerrard (K); 20 Sterling, 10 Rooney, 11 Welbeck; 9 Sturridge. Coach: Roy Hodgson

Es wird viele überraschen, dass Henderson statt Lampard spielt - aber das hat sich abgezeichnet. Lallana darf nicht ran. Rooney macht den Angriffsführer beim 4-2-3-1

Italien spielt in blau mit
12 Sirigu; 4 Darmian, 15 Barzagli, 20 Paletta, 3 Chiellini; 16 De Rossi, 21 Pirlo (K), 23 Verratti; 6 Candreva, 8 Marchisio; 9 Balotelli. Coach Cesare Prandelli

Sieht nach dem 4-3-2-1 der letzten Monate aus, sehr gefinkelt, sehr flexibel. Tormann Buffon ist verletzt. Sirigu von PSG war es einige Zeit, da ist ein Unsicherheitsfaktor.

Schiri am Amazonas ist Kuipers der Holländer, der beste Europäer momentan.

Halbzeit Eins

Italien beginnt forsch, vor allem über rechts und Darmian und Candreva, Die Außenverteidiger spielen weit vorne, das macht ein 2-3-4-1 und Druck.

England kommt aber ebenso schnell nach vorne und schießt aus allen Lagen - will die Goalie-Schwäche nützen.
Sterling und Welbeck rochieren wie wild und sorgen für Unruhe. Henderson bleibt neben Gerrard, anders als Lampard, der eher davor spielt. Die Außenverteidiger bleiben ruhig. Rooney ist auch ruhig, noch unsichtbar bisher

Das Match ist erstaunlich tempo- und abwechslungsreich, keine Schonung im Regenwald.

Englands Abwehr steht tatsächlich sehr gut, läuft alles ab, lässt wenig zu, nur Tormann Hart wackelt wie immer. Nach vorne hin ist Luft nach oben, aber das wirkt wie Absicht. Die jungen Engländer lauern darauf, dass die alternde Diva schwach wird.

Italien ist aber vergleichsweise jung aufgestellt: Balotelli, Verratti, Darmian... Das gleicht einiges wieder aus.

Ab der 20. Minute traut sich England mehr und baut über die Flügel druckvolle Angriffe auf, auch mit Johnson über rechts jetzt. Die siebzig Prozent Ballbesitz für Italien trügen - die englischen Aktionen brauchen einfach weniger Zeit, sind aber effektiver.

Baines, der linke Außenverteidiger kann nichts offensiv tun, weil über seine Seite alles an italienischen Angriffen kommt. Ab der 30. Minute noch stärker, alles über rechts. Und in der 36. kommt so ein Ball über rechts dann zu Marchisio, der aus 25 Metern durch vier Engländer durch flach (ich sage: flach) neben die linke Stange schießt. 0:1, für den Ballbesitz, ein bissl gegen den Spielverlauf.

Die Antwort kommt postwendend: Ideal-Pass von Sterling auf Rooney links, dessen Cross Sturridge halbvolley ins kurze Eck haut. Wunderbar! 1:1.

Dieses Match ist vielleicht nicht so spektakulär wie andere hier - es ist aber das taktisch-strategisch spannendste bisher. Es stehen einander zwei Teams mit ausgefeilten, und aufeinander abgestimmten Systemen und Matchplänen gegenüber, mit beachtlicher Adaptionsfähigkeit.
Italien etwa spielt bewusst asymmetrisch, mit dem vorsichtigen Chiellini links und dem enorm vorpreschenden Darmian rechts - die beiden Mittelfeldreihen stellen sich jeweils hochflexibel darauf ein. Ebenso wie die Engländer, die die Aufgaben ihres Flügelspiel deshalb neu verteilt haben.

In der Nachspielzeit holt Jagielka noch einen Balotelli-Lupfer von der Linie, und dann noch ein Stangenschuss von Candreva (den Hart aber gehabt hätte) - das ist ein Ausrufezeichen der Azurri direkt vor der Pause. Das brauchen sie auch, denn für ihre Erwartungen ist/war das bisher zu wenig.

Halbzeit Zwei

... geht gut los - mit englischen Angriffen.
Dann lanciert Marchisio nach fünfzig Minuten einen weiteren Angriff über rechts, Candreva setzt sich toll durch, flankt auf Balotelli, der am rechten Pfosten alle überspringt und einnickt. Tolles Tor, 1:2!

Die Antwort, wie schon bei ersten Tor - eine enorme Druckphase der Engländer; Rooney-Schuss, Flanken-Gefahr, Gerrard im Strafraum - und auch da kommt die Gefahr über die rechte Seite. Beide Teams greifen einander über die jeweils rechte Flanke an. Auch Rooney findet sich jetzt öfter dort.

In der 57. kommt 5 Thiago Motta für 23 Verratti - das macht Italien eine Spur konservativer. In der 61. kommt 21 Barkley für 11 Welbeck, der etwas zurückgefallen war.

Kurz darauf verfehlt Rooney sein erstes WM-Tor um Zentimeter. Er ist jetzt der aggressive leader seines Teams, wie auf der anderen Seite Candreva. Jetzt ist es ein aufputschendes, die Luftfeuchtigkeit ignorierendes hin- und herwogendes Match.

Italien kann jetzt auf die hohe Flexibilität seines 4-3-2-1 zurückgreifen, erzielt so eine strategische Überlegenheit, hält immer noch die Spielhoheit. England hat sich jetzt auf ein festes 4-2-3-1 festgelegt mit Sterling über rechts und Barkley links außen.

Immobile und Wilshere werden kommen. Johnson schießt (flach) vorbei. In der 73. dann der Stürmertausch: 17 Immobile für 9 Balotelli. Und 7 Wilshere für 14 Henderson, also ein Offensiver für einen Sechser - das macht jetzt ein 4-1-4-1. Oder: sollte es. Beginnen tut Wilshere neben Gerrard - sinnlos.

In der 77. schießt Baines (der sonst auch die Corner macht) einen exzellenten Freistoß und Rooney einen verheerenden Corner. Rooneys WM-Seuche muss doch irgendwann ein Ende haben, das wird langsam spooky.

In der 79. kommt 18 Parolo für 6 Candreva und 20 Lallana für 9 Sturridge. Das wird eine Änderung bedeuten, Rooney in die Spitze vor, Lallana geht auf links und auch Barkley geht in die Spitze, Hodgson spielt also jetzt ein 4-2-4.

Ob in den letzten Minuten noch viel geht ist fraglich - die Hitze setzt allen brutal zu. Kein Vorwurf: die Engländer probieren alles, was geht. Mit hochklassigen spielerischen Mitteln.

Am Schluss noch einmal Gelb für Sterling, einmal Latte für Pirlo und das wars dann.

Wenn ich mich da kapp vor der Halbzeit-Pause unklar ausgedrückt haben sollte: das war für mich das bislang beste Spiel. zwei unglaublich gut eingestellte Teams, die spielerisch hochwertig agieren, strategisch viel draufhaben und nicht nur über einen Matchplan, sondern auch über viele Lösungsansätze verfügen, fighten sich auf Augenhöhe an.

Mit Italien gewinnt das etwas reifere und ruhigere Team. Aber: England konnte gefallen. Das ist - im Gegensatz zum etwas simplen Spiel der Holländer - vielseitig und auch noch ausbaufähig

So wird man vielleicht nicht Weltmeister, holt sich aber viele Sympathien - quasi auf den Spuren der Deutschen - und schafft die zweite Runde.

Italiens Schwächen (der furchtbare Innenverteidiger Paletta, der verschenkte Chiellini, die schwache linke Seite) werden ihnen erst in Phase zwei dieser WM auf den Kopf fallen - oder sie merzen sie noch aus. Dann ist - wie so oft - auch was drinnen für die Blauen.