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Michael Riedmüller

Im Osten viel Neues: Geschichten aus der Ukraine

12. 6. 2014 - 19:02

"Gut" gegen "Böse"

Putin soll im Konflikt mit der Ukraine nicht dämonisiert werden, heißt es von vielen Seiten. Warum eigentlich nicht?

Seit Wochen und Monaten schon beobachte ich ein seltsames Phänomen: Kritik an Russland und dem Putin'schen Vorgehen, verbunden mit Lob an der ukrainischen Bürgerbewegung, ruft derzeit erstaunliche Reaktionen hervor: Solch ein Schwarz-Weiß-Denken verkenne die komplexen Hintergründe der Krim-Krise, nur Gut und Böse gebe es in dem Konflikt nicht. "Ja, aber"-Sätze haben in diesen Tagen Hochkonjunktur. Ja, die Annexion der Krim ist ein Bruch des Völkerrechts, aber man müsse auch die berechtigten Interessen sehen, die Russland hier verfolgt. Ja, das Referendum auf der Krim mag nicht legitim gewesen sein, aber das sei die ukrainische Übergangsregierung auch nicht. Ja, Russland versucht, seine Einflusssphäre auszubauen, aber nichts anderes versuche der Westen ebenso.

Selbsternannte "Experten" tauchen plötzlich an jeder Ecke auf. Quintessenz der Debatten ist häufig: Putin darf nicht dämonisiert werden. Doch ein einfacher, unemotionaler Blick auf die Fakten führt zur emotionalen Frage: Warum zum Teufel denn nicht? Widerspricht denn nicht alles, was Russland gerade tut, dem Wertegebilde, das sich Europa nach dem Zweiten Weltkrieg mühsam und in endlosen Debatten zusammengezimmert hat? Warum ist es so schwer, einfach auszusprechen, was offensichtlich ist? Warum kritisieren hierzulande so viele Menschen die angebliche Anti-Putin-Propaganda der deutschsprachigen Medien während sie gleichzeitig in die Falle der oft haarsträubenden Propaganda aus dem Kreml tappen?

A man stands by a barricade near the occupied by pro-Russian activists security service building in Lugansk, Ukraine, 15 April 2014.

APA/EPA/ZURAB KURTSIKIDZE

Tatsache ist: Russland ist in einen souveränen Nachbarstaat einmarschiert und hat einen Teil dessen Territoriums annektiert. Die Begründung dafür war an Dreistigkeit nicht zu überbieten. Die Bedrohung der ethnischen Russen auf der Krim, die es nach Meinung Putins zu beschützen galt, ist nichts anderes als ein Lügengebilde. Genauso wie die Feststellung, dass nicht eine Volksbewegung, sondern eine kleine Gruppe von Faschisten die legitim gewählte Regierung in Kiew gestürzt hätte. Es stimmt, dass es am Maidan einige rechtsradikale Kräfte gab, die aktiv an der Revolution beteiligt waren. Das soll nicht verharmlost werden, doch deshalb von einem neo-faschistischem Putsch zu sprechen, geht völlig an der Realität vorbei, zumal diese Gruppierungen in der absoluten Minderheit waren und dasselbe Ziel verfolgten, wie die breite Masse: eine demokratische Ukraine. Die Präsidentschaftswahlen Ende Mai haben eindeutig gezeigt, dass das rechtsextreme Lager in der Ukraine nur über eine verschwindend kleine Unterstützung unter der Bevölkerung verfügt – übrigens im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich und Österreich. Dass gerade Putin, der jegliche demokratische Entwicklung in Russland seit vielen Jahren mit eiserner Hand unterdrückt, vor den vermeintlichen Faschisten am Maidan warnt, hat fast komödiantischen Charakter. Wenn Russen irgendwo unterdrückt werden, dann in Russland, nicht in der Ukraine. Und die Bedrohung ukrainischer Staatsbürger, egal welcher Herkunft, geht nun vor allem von marodierenden Söldnerbanden im Donbass aus, die zu großer Zahl aus Russland kommen. Der von der Regierung angeordnete Militäreinsatz war eine Reaktion auf deren Vorgehen, nicht umgekehrt, wie die russische Propaganda es oft glauben machen möchte.

Im Osten der Ukraine glauben tatsächlich viele Menschen, dass mordende Neonazigruppen aus dem Westen kommen und ganze Dörfer abschlachten. Seit Beginn des Militäreinsatzes fühlen sie sich bestätigt. So wird aus der vorgestellten Realität plötzlich Wirklichkeit, ganz wie aus dem Propaganda-Lehrbuch. Und was passiert hierzulande? Westliche Politiker, die seit Beginn der Krise versuchen, den Konflikt friedlich zu lösen, werden als Kriegstreiber diffamiert, weil sie eine Regierung unterstützen, die notgedrungen gewaltsam gegen ausländische Söldner vorgeht. Keine Frage, dabei wurden viele Fehler begangen, doch der Aggressor in diesem Konflikt sitzt nicht in Kiew, sondern in Moskau. Glaubt wirklich irgendjemand ernsthaft, dass die militanten, zum Teil äußerst gut bewaffneten Gruppen im Donbass lokale "Selbstverteidungskräfte" sind? Das "Wostok-Bataillon" beispielsweise, bestehend aus tschetschenischen Soldaten, steht in den Kämpfen an vorderster Front. Was sagt der Kreml dazu? Alle freiwillig dort, um Blutsbrüder vor den Kiewer Faschisten zu schützen. Selbst, wenn dem so wäre, würde ein Wort aus Moskau genügen, all diese Gruppen sofort zum Rückzug zu bewegen. Doch der einzige, der wirklich zur Deeskalation beitragen könnte, hat daran keinerlei Interesse.

Ein Ukrainer weht die Flagge seines Landes.

EPA/VOLODYMYR PETROV

Anhänger der Realpolitik erklären immer wieder, dass Russland legitime Interessen in der Ukraine hat, die Putin genauso verfolgt wie der Westen. Die Intervention sei demnach nur eine natürliche Reaktion auf den Expansionskurs Richtung Osten von NATO, EU und Co. gewesen, eine psychopathologische Reaktion großrussischen Denkens. Und vor allem: Man müsse Putin schon verstehen, aus vielerlei historischen Gründen würde er sich geradezu versündigen, ließe er die Ukraine aus der russischen Einflusssphäre ausbrechen. Es wirkt, als ob viele Kommentatoren vor lauter Verständnisbäumen den Faktenwald nicht mehr sehen.

Was gibt es zu verstehen? Russland ist kein Opfer, sondern Täter. Zuletzt hat die Präsidentschaftswahl gezeigt, dass ein überwältigender Teil der Ukrainer für eine stärkere Orientierung an den Westen und die Europäische Union sind. Genau das versucht Russland zu verhindern und das beste Mittel dazu ist das derzeitige Vorgehen: Ständige Destabilisierung der Situation mit dem Ziel, ein zweites Bosnien unter dem Deckmantel der Föderalisierung zu schaffen. Keinerlei noch so berechtigte Interessen können das Vorgehen Russlands der vergangenen Wochen legitimieren, doch genau das passiert, wenn die vielen so genannten Putinversteher Verständnis zeigen. In Frankreich gibt es dafür ein schönes Sprichwort: "Tout comprendre c'est tout pardonner" – alles verstehen heißt alles verzeihen.

Doch statt das Vorgehen Russlands als das zu kritisieren, was es ist, eine massive Aggression gegen ein Nachbarland, wird immer stärker Kritik an der Politik der EU im Vorfeld der Krise laut, so, als ob das der Grund für den Konflikt sei. Dabei wird immer wieder vergessen, dass es die Ukraine selbst war, die über Jahre eine stärkere Annäherung an den Westen forciert hat. Das pluralistisch-freiheitliche Demokratiemodell, für das Europa heute steht, ist für einen Großteil der Ukrainer wesentlich attraktiver als das von Korruption und Kleptokratie durchsetzte System, für das Putins Russland steht, und unter dem die Ukrainer seit dem Ende der Sowjetunion litten. Deshalb gingen die Menschen zu Millionen auf die Straßen, und nicht, weil sie vom Westen Geld zugesteckt bekamen, wie oft unterstellt wird.

Blumen und Kerzen für die Getöteten am Maidan

EPA/ALEXEY FURMAN

Was hinter dieser Kritik tatsächlich steht, ist oft nichts anderes als ein plumper Anti-Amerikanismus, der offenbar blind macht für die derzeitigen Vorgänge in der Ukraine. Die Logik dahinter ist einfach: Die USA sind böse, wen Washington unterstützt, muss deshalb auch böse sein, und wer gegen die US-Politik agiert, in diesem Fall der Kreml, muss dann ja der Gute sein. So einfach diese Logik ist, so dämlich ist sie auch, denn sie basiert auf unsinnigen Vergleichen, wie dem amerikanischen Drohnenkrieg in Pakistan oder der Irak-Invasion. Der moralische Anspruch des Westens mag in diesem Konflikt noch so scheinheilig sein, das ändert nichts an der Tatsache, dass er auf der Seite der größten europäischen Demokratiebewegung seit dem Fall der Sowjetunion steht. Bei allen Schattierungen, die es in Revolutionszeiten immer gibt, ist eines unbestritten: Diejenigen, die sich für Demokratie, Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit einsetzen, sind die Guten, diejenigen, die das verhindern wollen, die Bösen. So einfach ist das, und dennoch muss es offenbar ausgesprochen werden.

Es mag für uns Bürger der EU schwer zu verstehen sein, wieso Menschen bei minus 20 Grad wochenlang in Zelten ausharren und ihr Leben riskieren, um für demokratische Grundrechte einzutreten. Viele wittern schnell den Westen als Initiator hinter dem Ganzen. Ist es wirklich so schwer vorstellbar, dass ein Volk aus eigenem Antrieb gegen ein autokratisches Regime kämpft? Gespräche mit Ukrainern, die in Kiew protestiert haben, würde Abhilfe schaffen, doch im Westen bleibt der Maidan oft ein abstraktes, gesichtsloses Bild. Diese Menschen verdienen Bewunderung, denn sie haben sich erfolgreich zur Wehr gesetzt, gegen eine Regierung, die aus vielen Gründen schon lange jegliche demokratische Legitimität verloren hatte. Sie haben dabei genau für jene Werte gekämpft, die die EU nicht nur vertritt, sondern auch verlangt, wenn man ihr beitreten möchte.

Realpolitik hin oder her, die Ukrainer verdienen die Unterstützung Europas, finanziell aber noch viel mehr im Aufbau demokratischer Strukturen. Überlässt Europa die Ukraine stattdessen aus diplomatischen Gründen ihrem Schicksal, was zu einem Scheitern der Demokratiebewegung führen könnte, wäre das nichts anderes als eine moralische Bankrotterklärung. Oft höre ich die Frage, wie viel uns die Ukraine denn angesichts des Konflikts mit Russland wert sein sollte. Die Antwort fällt leicht: Sie muss uns alles wert sein. Denn die Ukraine hat keine Zukunft ohne Europa, aber Europa hat auch keine Zukunft ohne die Ukraine, um es mit den Worten des Historiker Timothy Snyder, einer der profundusten Ukraine-Experten weltweit, zu sagen. In der Ukraine haben sich über die Jahrhunderte die Wendepunkte der europäischen Geschichte gezeigt, das gelte auch heute. Wir müssen endlich verstehen, dass ein Angriff auf das Projekt einer demokratischen Ukraine auch ein Angriff auf das europäische Projekt ist.