Erstellt am: 12. 6. 2014 - 19:05 Uhr
Kultur für gebeutelte Seelen
Flucht nach Vorn
Im Kellerraum des Integrationshauses Wien herrscht konzentrierte Stimmung. Rund zwanzig Jugendliche falten Seidenpapier, schneiden Bambusstäbe, leimen und malen. Unter Anleitung bauen sie Flugdrachen, nach afghanisch-traditionellem Vorbild. Die Jugendlichen sind zwischen vierzehn und achtzehn Jahre alt, aus ihrem Heimatland geflüchtet und meist nach einer beschwerlichen Reise in Österreich gelandet. Zusammengebracht hat sie der Verein "Flucht nach Vorn". Seit gut einem Jahr organisieren die sechs Mitglieder Freizeitaktivitäten für Jugendliche mit Fluchthintergrund.
"Die meisten Jugendlichen hatten eine schlimme Kindheit hinter sich und mussten schnell erwachsen werden. Auf ihrer traumatisierenden Flucht haben sie viele schlimme Dinge erlebt, und wir versuchen ihnen ein Stück ihrer Kindheit zurückzugeben, oder ihnen zumindest ein paar unbekümmerte Stunden zu verschaffen, in denen sie ihre Sorgen vergessen können.", erklärt die 24-jährige Studentin und Dolmetscherin Anahita Tasharofi, Gründerin und Obfrau von "Flucht nach Vorn".
Longboarden und tanzen
Regelmäßig gehen Anahita und ihre Kollegen in die Flüchtlingswohnheime und Wohngemeinschaften der Caritas und dem Integrationshaus und informieren über ihre Unternehmungen. Sie nutzen ihre privaten Kontakte in die Kreativbranche und Kulturszene und stellen damit ein vielfältiges Angebot zusammen: Longboarden mit der Longboard Girls Crew-Austria, Graffiti-Workshops, Theaterbesuche, Tanzen in der Pratersauna. Alles Aktivitäten also, zu denen jugendliche Flüchtlinge auf Grund ihrer finanziellen Situation üblicherweise keinen Zugang haben.
Flucht nach Vorn
Der Verein selbst ist auf Spenden angewiesen und so musste das schon lange geplante Drachenbauen immer wieder verschoben werden, da kein Geld für die Materialien zur Verfügung stand. Mit circa zwanzig Teilnehmern sind doppelt so viele Jugendliche wie erwartet zum Workshop gekommen. Alle lauschen sie den Erklärungen des 28-jährigen Saba. Der Kellner ist in Afghanistan aufgewachsen und kennt die Tradition des Drachenbauens aus seiner Kindheit.
"Ich bin glücklicherweise mit meiner Familie nach Österreich gekommen, und weiß, was es heißt, fremd in einem Land zu sein. Aber für diese Jugendliche ist es besonders schwer, weil sie ohne Eltern da sind."
Therapeutischer Wert
Sonja Brauner ist Psychotherapeutin mit langjähriger Erfahrung in der Therapie traumatisierter Jugendlicher und auch bei Hemayat tätig, eine Betreuungseinrichtung, die sich um die psychologische Betreuung von Folter- und Kriegsüberlebener kümmert. In der Arbeit von "Flucht nach Vorn" sieht sie sowohl therapeutischen, als auch gesellschaftspolitischen Wert.
"Jeder kann sich vorstellen, dass, wenn man Jugendliche, die sich als Außenseiter der Gesellschaft fühlen, die alleingelassen sind und wenig Geld haben, die die Sprache auch nicht sprechen und dann eventuell auch noch schwer traumatisiert sind, sich selbst überlässt, dass das zu unangenehmen Resultaten wie Aggression und Gewalt führen kann. Und so ein Verein fängt da ganz viel ab."
Auch nur der kleineste Moment, in dem ein Jugendlicher lacht, sich freut, etwas Neues dazu lernt und selbstwirksam sein kann, sei für das weitere Leben positiv, so Brauner weiter.
Ein Stammgast in den Unternehmungen und Projekten von "Flucht nach Vorn" ist die sechzehnjährige Sara. Auch sie ist von eineinhalb Jahren aus Afghanistan nach Österreich geflüchtet. Sara findet nicht nur das vielfältige Angebot von Flucht nach Vorn wichtig, sondern auch, dass "wenn man neu in einem Land ist, und die Sprache noch nicht so gut kann, eine Gruppe hat mit der man lachen und Spaß haben kann."
Die Drachen steigen
Der Workshop endet auf der Wiese hinter dem Integrationshaus. Zuerst scheint es so, dass etwas zu wenig Wind herrscht um die selbst gebauten Drachen in die Luft zu bekommen. Doch dann, nach einigen Anläufen steigen die ersten Drachen in den Himmel und tanzen bunt unter der grauen Wolkendecke. Auf der Wiese hört man lautes Lachen.
Flucht nach Vorn