Erstellt am: 10. 6. 2014 - 14:30 Uhr
Parallelwelten: Geschichten aus der Favela
Ende April wird der bekannte Tänzer Douglas Rafael da Silva Pereira in seiner Heimatfavela Pavão-Pavãozinho in Rio de Janeiro ermordet aufgefunden. Die EinwohnerInnen glauben, es war die Polizei. Sie marschieren von ihrem Hügel hinunter ins reiche Viertel Copacabana, sperren die Straße ab und demonstrieren. Douglas wird zum Symbol für die anhaltende Polizeigewalt gegen schwarze Jugendliche aus den Favelas Rios. Sein Schicksal spiegelt die gewalttätige Geschichte der Favelas wider – und sein Beruf die kreative Vielfalt dieser Viertel.
Entstanden sind die Favelas Anfang des 20. Jahrhunderts. Freigelassene SklavInnen, Arbeitssuchende aus anderen Teilen Brasiliens und Wirtschaftsflüchtlinge aus Europa siedeln sich auf den steilen Hügeln der Stadt an. Von Anfang an entstehen Parallelwelten, aus denen sich der Staat fernhält. Alles in der Favela – oder Comunidade, wie die EinwohnerInnen selbst sagen – entsteht durch die EinwohnerInnen selbst. So erzählt uns Dona Justina Amelia, die in den 1930er Jahren als Kind aus Portugal nach Rio gekommen ist, dass ihr Vater Land von einem Kaffeebaron gekauft habe und in Folge gemeinsam mit anderen, hoch oben am Hügel begonnen habe, Straßen zu bauen, Wasser zu organisieren und viel später auch Strom. Es ist ein hartes und entbehrungsreiches Leben, welches Dona Justina Amelia führt. Drei Kinder zieht sie auf, arbeitet nebenbei, kümmert sich später um die EnkelInnen. Ein einziges Mal nur in ihrem ganzen Leben fährt sie zum Strand.
Johannes Schmidt
Auch Dona Norma, die aus dem nordostbrasilianischen Salvador stammt, erzählt von harten Zeiten: mit 19 Jahren geht sie aus Salvador weg, stoppt nach Rio de Janeiro ohne einen Cruzeiro in der Tasche, nur mit der Adresse eines Arbeitsplatzes in der Hand. Als sie ankommt, stellt sich dieser als Bordell heraus. Sie verweigert, lebt zwei Wochen auf der Straße. Mit viel Glück bekommt sie in Folge einen Job als Hausangestellte - und baut sich mit viel Fleiß ein Leben in der Favela Bangu, einem Vorort von Rio, auf.
Im staatsfreien Raum der Favelas übernehmen ab den 70er und 80er Jahren bewaffnete Gruppen die Macht. Es entstehen drei kriminelle Fraktionen, die Rio unter sich aufteilen. Diese dealen nicht nur mit Drogen, sondern übernehmen auch das Gewaltmonopol in der Favela. Dona Norma erzählt von ihrer Nachbarin, die mehrmals von ihrem Mann geschlagen wurde. Sie geht nicht zur Polizei – denn diese komme sowieso nicht in die Favela. Stattdessen beklagt sie sich bei den Drogenhändlern. Die drohen dem Ehemann: sollte er noch einmal zuschlagen, gebe es Konsequenzen. Er schlägt wieder zu. Die Drogenhändler verfrachten ihn daraufhin aus der Favela und verbieten ihm unter Todesandrohung zurückzukommen.
Johannes Schmidt
Die Mitglieder der kriminellen Fraktionen kommen meist aus den Comunidades selbst. Es sind die früheren Fußballfreunde oder SchulkollegInnen, die später mit der Waffe in der Hand die Favela kontrollieren. Daher haben sie Rückhalt in den Comunidades – und, so erzählt uns Tiago aus Andaraí, geben den Comunidade auch viel zurück: so organisieren sie Infrastruktur- und Musikkonzerte und Parties. Involviert in den Drogenhandel sind aber nicht nur sie sondern auch Polizei und Politiker. So werden im Herbst 2013 im Hubschrauber eines Parlamentsabgeordneten 450 Kilogramm Kokain gefunden. Favela, das ist aber nicht nur Gewalt und Drogenhandel: Hier wurde der Samba geboren, und ebenso der Carioca Funk, den unter anderem das Buraka Som Sistema, M.I.A und Diplo global bekannt gemacht machen.
2002 köpfen Drogenhändler einen Journalisten des Fernsehsenders Globo mit einem Samuraischwert und verbrennen den Toten, ein Wendepunkt in der öffentlichen Sicherheitspolitik, erzählt uns Thainã de Medeiros, Aktivist und NGO-Mitarbeiter aus der riesengroßen Favela Complexo Alemão. Auch im Hinblick auf die WM 2014 in Brasilien und die olympischen Spiele 2016 ändert die Stadtregierung schließlich ihren passiven Umgang mit den Comunidades, der bis zu diesem Moment vor allem darin bestanden hat, punktuell im Drogenkrieg einzugreifen. Nach einigen fehlgeschlagenen Projekten, die Favelas zu okkupieren, wird 2008 eine Strategie der "Pazifizierung" ausgerufen. Der Staat soll präsent werden in den Favelas- - und die Polizei zum Freund der lokalen Bevölkerung. Die Besetzung der Comunidades durch die Polizei wird dabei im Fernsehen und in allen Medien einige Tage zuvor angekündigt – man will den bewaffneten Gruppen die Chance geben, aus der Favela abzuziehen, um Schießereien zu vermeiden. Danach rücken Spezialeinheiten der Polizei in die Favelas ein.
Johannes Schmidt
Nach einigen Monaten werden dann Posten für die "Pazifizierungspolizei" geschaffen. Und schließlich sollen öffentliche Leistungen wie Schulen und Gesundheitsposten in die Comunidades gebracht werden. Eine Favela nach der anderen wird nach diesem Prinzip "pazifiziert" - erst vor kurzem wird auch die Favela Maré, strategisch wichtig an der Autobahn zwischen Flughafen und Stadtzentrum gelegen. Wenige Wochen davor werden noch Drogen, sauber verpackt und etikettiert, offen auf der Einkaufsstraße verkauft. Wochen später patrouilliert dort das Militär, die Drogen sind verschwunden.
Anfangs scheint das Konzept zu funktionieren, die Kriminalitätsrate geht zurück, EinwohnerInnen der Comunidades freuen sich darüber, dass die Schießereien fast vollständig aufhören. Manche Favelas werden sogar zu Touristenattraktionen, sowie die Favela Vidigal. Aber mittlerweile mehrt sich die Kritik: die Pazifizierungspolizei, ein Arm der Militärpolizei, gehe unsensibel gegen die Bevölkerung vor, es komme zu Menschenrechtsverletzungen. Immer wieder werden unbeteiligte Jugendliche von der Polizei regelrecht hingerichtet. Thainã erzählt uns, dass die beliebten Baile Funk-Parties verboten wurden. Außerdem steigen Immobilienpreise, und die öffentlichen Services wie Strom und Wasser müssen teuer bezahlt werden – und werden für manche unleistbar. Die Drogenhändler flüchten in die Favelas weiter außerhalb des Stadtzentrums. Dort nimmt die Gewalt zu. Und sie kommen auch wieder zurück: in den pazifizierten Favelas nehmen die Schießereien zu, es sterben wieder häufiger PolizistInnen und EinwohnerInnen. Die Drogenhändler sind dabei selbstbewusst wie eh und je: kurz vor der WM kommen Marihuana-Päckchen in Umlauf, die das FIFA-Logo und den Hinweis tragen, dass sich die FIFA doch bei den Drogenhändlern beschweren soll, wenn eine Copyrightverletzung vorliege.
Johannes Schmidt
Der Aufwand, die Stadt für die anströmenden Touristenmengen abzusichern, ist gewaltig – und kostet Menschenleben. Ob der Atem der Stadtregierung lang genug ist, um neben der Militärpolizei auch soziale Einrichtungen in die Favela einziehen zu lassen, wird sich erst nach den Großevents zeigen. Tänzer Douglas hat übrigens möglicherweise vor kurzem seinen eigenen Tod gespielt: in einem Kurzfilm, welcher Polizeigewalt thematisiert, übernahm er die Hauptrolle.