Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Last Blues Man Standing"

Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

10. 6. 2014 - 11:20

Last Blues Man Standing

Seit dem Aus der White Stripes wühlt Jack White, unser Artist Of The Week, noch tiefer im Urschlamm der Rockmusik. Doch wer genau hinhört, hört auch einen Erneuerer.

1976 forderte Elvis Presley vom damaligen Sheriff von Memphis ein Exekutivrecht seines Ehrentitels. Der King, ein lebenslanger Fan von Law and Order, hatte aus dem ganzen Land eine ansehliche Sammlung von Polizei-Badges zusammengetragen – darunter auch die Plakette „Debuty Sheriff“ von Memphis. Nun meinte er es ernst mit dem blue light auf dem Dach eines seiner Cadillacs. Als der Amtsträger Gene Barksdale nein sagte, drohte Elvis mit der Gegenkandidatur bei der nächsten Sheriffswahl. Den ungewissen Ausgang fürchtend heftete Barksdale dann doch noch einen gültigen Stern an Elvis' Jumpsuit. Die Legende besagt nun, dass der King of Rock'n'Roll Kraft seiner validen executive power tatsächlich des öfteren vor seinem Anwesen Graceland patroullierte und das eine oder andere Speeding-Ticket verteilte.

Jack White, Lazaretto

ThirdManRecords

Wo sind sie nur abgeblieben, die übergeschnappten, unberechenbaren, sich selbt maßlos überschätzenden und doch so unsicheren Exzentriker der Popmusik? Überall, wo man hinsieht dieser Tage, trifft man auf überreizte Zeichen. Doch diese Zeichen wirken zunehmend kuratiert oder wie planstabsmäßige Tabubrüche hart arbeitender CEOs aus der Popakademie. Eines ist klar, die Disziplinierung bei gleichzeitiger Clixploitation durch Social Media, Online-Foren oder zu Gossip mutierten Musikmagazinen macht die Sache nicht gerade einfacher für Feuerköpfe, denn Fehltritte, unbedachte Äußerungen und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate fliegen einem dieser Tage schneller um die Ohren, als man das Wort Shitstorm sagen kann.

Records und Rekorde

Jack White hat zum diesjährigen Record Store Day den wahnwitzig absurden Weltrekord für die schnellste Produktion einer Vinyl-Single ever aufgestellt. Innerhalb von drei Stunden, 55 Minuten und 21 Sekunden wurde das Titelstück seines neuen Albums "Lazaretto" vor Publikum aufgenommen, anschließend gemastert, gepresst, verpackt und schließlich einer johlenden Fanschar verkauft. Es war der erste Rekordversuch in dieser Katergorie ...

Whites neues Album ist als Sonderedition erhältlich. Sie enthält allerlei Quacksalber-Tricks: Engerln tauchen an der Oberfläche des rotierenden Vinyls als Hologramme auf. Je nach Rotationsgeschwindigkeit, Laufrichtung der Scheibe und Position der Plattennadel erklingen verschiedene Intros von ein und demselben Song. Und unter dem Papierlabel beim Mittelloch lauern geheime "Under Label Grooves" ...

Jüngst hat White Neil Young in einen selbstgebauten Vinyl-Aufnahmeautomaten gesperrt und dem Rockvet ein etwas durchwachsenes Album von Coverversionen abgepresst ....

Website: Jack White

Zwischendurch droppt das Kid mit der mittlerweile zwingenderen Johnny-Depp-Aura als Johny Depp im Rolling Stone Magazine abfällige Bemerkungen über Musikerkollegen wie die Black Keys oder Adele, die er mehr oder weniger als Rip-Off-Profiteure einer Amy Winehouse oder seiner selbst bezeichnete. Ein paar erwartbare Shittornados später rudert White mit der halbherzigsten Entschuldigung der Rockgeschichte zurück. Oh, der Mississippi ist kein tiefes Wasser!

Last Blues Man Standing

Bereits mit den vor drei Jahren aufgelösten White Stripes hat Jack White für Unruhe gesorgt. Er und Band- und Lebenspartnerin Megan kreuzten modernes Nerdtum mit amerikanischer Roots-Musik. Daraus entstanden ist ein dreckiger, aber unwiderstehlicher Strom aus Garagen-Punk-Blues, der in den Nullerjahren auf frevelhafte Weise zur Erweckungsmusik, nicht so sehr für schwere Jungs auf schweren Maschinen, sondern für blasse Spaghettisultans auf ihren Vorstadtmopeds wurde. Die White Stripes eröffneten zeitgleich mit den Strokes und anderen das Retro-Zeitalter und schickten die bereits unter Grunge schwer unter Beschuss gekommenen Rockklischees endgültig in den Staub.

Dass es allerdings ausgerechnet das White-Stripes-Riff von Seven Nation Army als Schlachtgesang in die Sportarenen dieser Welt schaffte, überraschte dann doch. White freute sich nicht uneitel darüber, dass den meisten Menschen Urheber und Namen des Riffmonsters wohl für immer unbekannt bleiben werden. Dass sei der wahre Folk, soll er dazu gesagt haben.

Seit dem Ende der White Stripes wühlt der aus Detroit stammende, aber mittlerweile in Nashville lebende Gitarrenwürger noch tiefer im Urschlamm der amerikansichen Musiktradition. Blues, Rock, Country und Folk sind die Ingredienzien seiner Tinkturen, die er uns im Stile eines fahrenden Quacksalbers unterjubelt. White sieht sich dabei gern in der Rolle des "Last Blues Man Standing" seiner Musikergeneration.

Jack White live

JackWhite.com

Dabei geht es ihm weniger um die Konservierung der Form. White glaubt vielmehr – Postmoderne hin und her – ungebrochen an den Spirit des Blues, die Aufmüpfigkeit des Rock'n'Roll, die erzählerische Kraft des Folk und Country. Wahrhaftigkeit, Baby. Freilich kann man sich mit so einer altmodischen Einstellung auch schnell einmal zum Clown machen. Vor diesem Hintergrund sind auch die Disses gegen die Black Keys zu verstehen, die den Charakter ihrer Musik mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit an den lukrativen Werbemarkt angepasst haben. Oder Adele, die in Krisenzeiten bloß Besänftigungssoul für die Massen anzubieten hat. Oder den Country Star, der wie ein NASCAR-Testimonial irgendeiner gottverdammten Corporation für den Tagessieg dankt, während der High-Fructose-Corn-Syrup-Bluegrass den letzten Kleinbauern von seiner Farm zu fiddeln droht.

So spielt White von seinem hohen blauen Roß aus den Deputy Sheriff seiner Generation. Und dort sitzt er fest im Sattel, denn er hat sich eine Freiheit geschaffen, wie sie für die USA nicht typischer sein könnte: Jack White hat ein Unternehmen gegründet. Third Man Records, geboren in der Stripes-Frühphase 2001, existierte zunächst als ortloses Label, ehe White in die Country-Hauptstadt Nashville übersiedelte und dort 2009 die Third-Man-Headquarters aufsperrte. Das unabhängig agierende Label veröffentlicht hauptsächlich auf Vinyl. Altgediente Stars wie Wanda Jackson scheinen im Katalog auf, ebenso wie die fast vergessenen Flat Duo Jets, dann Ex-Frau Karen Elson, Comedy-Platten von Reggie Watts und Conan O’Brien, die direkt im Aufführungsraum der Third Man Venue aufgenommen wurden, sowie Releases der White-Bands Raconteurs, The Dead Weather und natürlich Jacks Soloplatten.

Neues Album "Lazaretto"

In verrückten Album-Roll-Outs, die manchmal wie ins Heute übersetztes Vaudeville-Theater anmuten, manifestiert sich Whites Obsession mit der Materie. Missionarisch pilgert er durchs Land und verkündet die nicht immer frohe, aber stets laute Botschaft des Rock'n'Roll. In seinen bisherigen Soloalben, dem vor zwei Jahren erschienenen „Blunderbuss“ (2012) und dem soeben aufgelegten „Lazaretto“, fließen die holy waters aus allen Kanälen, Hauptströmen und Nebenarmen des bisherigen Schaffens zusammen. Und die Wellen gehen hoch! Ein manischeres Album als "Lazaretto" ist in diesem Jahr noch nicht erschienen. Stücke wie der Titeltrack, oder die erste Single "High Ball Stepper", die vielleicht kurzweiligste Instrumentalnummer seit einer kleinen Ewigkeit, lassen die Gitarren in den Himmel jaulen, als bräuchte man dafür einen Waffenschein. Country-Balladen wie "Temporary Ground" und "Entitlement" sorgen für die dringend benötigten Ruhephasen.

Whites bisheriges Solowerk stünde im Schatten der Scheidung von Karen Elson samt Sorgerechtsfight um die zwei gemeinsamen Kinder, munkelt die Fachpresse. Die Texte lassen diesen Schluss zu, obwohl sich White in Interviews davon distanziert. Geschunden, gelitten und gehadert wird auf "Lazaretto" jedenfalls ausreichend. "I Think I Found The Culprit", heißt es im gleichnamigen Song mit Fingerzeig auf das Gegenüber. An anderer Stelle wird die Unsicherheit im Umgang mit Frauen beklagt. In "Just One Drink" singt das erzählende Ich in bester "Honky Tonk Women"-Laune der Rolling Stones gar nicht mal so zufrieden mit sich selbst: "You drink water/
I drink gasoline/ One of us is happy/ One of us is mean." Einzig der Midtempo-Klavier-Stepper "Alone In My Home" verströmt etwas Ausgeglichenheit.

Musikalisch ist das Album äußerst dicht. Jede Note ein Schweißtropfen, jeder Klang eine Träne. Selbst in den matten, vom Pedal Steel abgefederten Momenten, bleibt die Spannung hoch. White setzt sich immer häufiger ans Saloon-Piano und lässt auch die Fiddle groß aufspielen.
Wenn er die Gitarre in die Hand nimmt, lässt er sie wilde Hacken schlagen und durch diverse Effekte morphen. Nach der jahrzehntelangen Ächtung von Gitarrensoli und ausgestellter Virtuosität durch den sogenannten guten Geschmack, ist es eine helle Freude, Jack White bei seiner ketzerischen Saitenfummelei samt Hendrix/Page-Gedächtnis-Kreischen zuzuhören.

Dass der Last Blues Man Standing dennoch kein Reenactment-Darsteller vor dem Herrn ist, zeigen Stücke wie der Titeltrack "Lazaretto", das von den Gesangsparts aus gehört nur post-Hip-Hop entstanden sein kann. Oder das Intro des Spaghetti-Prog-Monsters "Would You Fight For My Love", das jedem Dub-Step-Track dieser Erde zur Ehre gereicht. Das neue Album, das der angebliche Digital-Phobiker erstmals im Computer nachbearbeitet hat, ist voll von diesen überraschenden und vitalen Momenten. White mag sich in seiner Inszenierung mit Vintage-Hokuspokus umgeben und den Retroliebhaber spielen, seine Musik aber ist neugierig und hungrig geblieben.

"Lazaretto", der Titel, sei die Sehnsucht nach einer Zwangspause von sich selbst, einem Einhalten, das von alleine nicht gelingt, so Jack White in einem Interview für NPR. Es wird wohl weiterhin bei dieser Phantasie bleiben.