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Daniel Grabner

Geschichten aus on- und offline, zwischen den Zeilen und hinter den Links

7. 6. 2014 - 12:31

Auf der Suche nach dem Ich

Szczepan Twardochs Besteller "Morphin" wurde aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt. Eine ambivalente Leseerfahrung.

Viel ist auf den ersten paar Klicks nicht zur erfahren von Szczepan Twardoch. Einen deutschen oder englischen Wikipedia-Eintrag gibt es noch nicht, die Autoren-Infos auf Rowohlt sind spärlich. Fünfunddreißig Jahre alt, polnischer Autor, Polityka-Passport-Preis für Morfina 2012, lebt in Pilchowice/Schlesien. Sechshundert Seiten stark ist sein Bestseller, der nun übersetzt wurde.

Buchcover

Rowohlt Verlag

"Morphin" ist in einer Übersetzung von Olaf Kühl bei Rowohlt erschienen

In den frühen Wochen des zweiten Weltkriegs, Polen wurde gerade von Deutschland besetzt, wacht Konstanty Willemann, der dreißigjährige Protagonist des Romans, verkatert in einer Warschauer Wohnung auf. Er hat eine Frau, einen Sohn, hat bis zur Kapitulation gegen die Deutschen gekämpft, einen Orden erhalten und verbringt nun seine Zeit mit Alkohol, Drogen und Prostituierten. Twardochs Held der Geschichte ist die abgefuckte, morphinabhängige Version der klassischen literarischen Figuration des sogenannten Dandys.

Gespaltener Held

Konstanty Willemann ist eine auf mehreren Ebenen gespaltene Persönlichkeit. Die Mutter ist Polin, sein totgeglaubter Vater deutscher Kriegsveteran aus adeligem Geschlecht. Von der dominanten Mutter zum Polen erzogen, war es immer das Deutsche in ihm, das er verbergen musste. Er spricht auch die Sprache des Vaters, nun ist es die der feindlichen Besatzer, fließend.

Konstanty liebt seine polnische Frau Helena, die er zur reinen und unbefleckten, unantastbaren Schönheit hochstilisiert und deren nationaldemokratischer Vater in ihr die Inkarnation Polens sieht, während Konstanty sie mit der jüdischen Edel-Prostituierten Salomé in orgiastischen Morphinräuschen betrügt.

Meine Salomé ist wie Lilith, sie trägt die ganze weibliche Dämonie in sich, ihre Sexualität ist höllengleich, jeder ihrer Orgasmen ist Sünde, […]

Twardochs Held ist ein in seiner nationalen, familiären und ganz persönlichen Identität verunsicherter Mensch, ängstlich, arrogant und verzweifelt. Klischeehaft sieht und beschreibt er als Ich-Erzähler die Frauen in seinem Leben, allen voran die dämonische Mutter, die über ihn wacht, und von der er abhängig ist. Auf der Suche nach Bestätigung pendelt er zwischen diesen schwarz-weiß gemalten Frauenbildern und flüchtet dabei in teils überzeichnete Erotikszenen. Auf Grund seiner Herkunft und ausgezeichneten Deutschkenntnisse wird Konstanty vom Widerstand angeworben. Er nimmt die Identität seines deutschen Vaters an, um als hochrangiger deutscher Offizier getarnt nach Budapest zu reisen. Von seinen unwissenden polnischen Landsleuten wie auch seiner Frau wird er dafür als Deserteur und Verräter gehasst.

Stärken und Schwächen

Twardoch lässt seinen Protagonisten allerdings nicht allein. Zwischen den aus der Ich-Perspektive erzählten Passagen klinkt sich von Beginn an immer wieder eine Erzählerin ein, die sich als eine Art höhere dämonische Instanz vorstellt und im Zwiegespräch mit der Hauptfigur versucht, Einfluss und Kontrolle auszuüben. Dieser „Kniff“ des Autors birgt sowohl Stärken als auch Schwächen in sich. Durch die erweiterten Möglichkeiten der Erzählweise erfährt der Leser mehr, als das, was in der und unmittelbar rund um die Hauptfigur Konstanty vorgeht. Die (fast) allwissende Erzählerin greift der Geschichte geschickt vor, gibt Rückblenden in die Vergangenheit und (sehr effektvoll): verfolgt erzählerisch die Geschichte einiger Nebenfiguren, oft bis zu deren Tod, weiter. Der Roman verdichtet sich so zu einem aus vielen Nebengeschichten bestehenden atmosphärischen Makrouniversum, in dessen Mittelpunkt Konstantys Geschichte ihren Lauf nimmt.

Das Mystische daran, das Spiel mit der antiken Vorstellung von Göttern oder gottähnlichen Wesen, die das Schicksal der Protagonisten lenken, gewinnt in Morphin durchaus seinen Reiz, der leider durch eben diese Erzählerinstanz auch wieder abgeschwächt wird: Die vorhin erwähnten Zwiegespräche nehmen im Verlauf der Handlung an Häufigkeit zu, immer öfter wird der Gedankenfluss des Protagonisten unterbrochen. Das beginnt zu nerven, vor allem wenn sich die Einschübe darauf beschränken, die eben geäußerten Gedanken des Protagonisten in Frage zu stellen.

Du bist Einbildung, nur ich bin wirklich, also bist du vielleicht nur meine Einbildung? Vielleicht träume ich dich, mein Lieber, vielleicht bist du mein Albtraum, Traum jenes oder jener Dritten, die oder der hinter den zweien geht auf weißem Weg?

Die Suche nach Identität

Konstanty wird auf seiner Reise nach Budapest von einer polnischen Agentin begleitet. Die beiden kommen sich näher, in Konstanty setzt sich eine Entwicklung in Gang. Spätestens hier wird klar: Morphin ist nicht nur die Geschichte eines hedonistischen Drogensüchtigen, sondern ein (Entwicklungs-) Roman über die Suche nach der eigenen Identität jenseits von nationalen oder gesellschaftlichen Rollenmodellen.