Erstellt am: 4. 6. 2014 - 13:37 Uhr
Shakespeare gegen das Einschlafen
Ich arbeite als Nachtwächter. Das kann euch leicht vorkommen, aber das Hauptproblem ist sich vorm Einschlafen zu schützen. Im bulgarischen Volksmärchen „Die drei Brüder und der goldene Apfel“ müssen drei Brüder einen goldenen Apfel in der Nacht vor einem Drachen bewachen. Zwei davon schlafen ein und scheitern an ihrer Aufgabe. Nur der dritte schafft es, wach zu bleiben, indem er die ganze Zeit Walnüsse mit den Händen bricht. Das hilft mir aber gar nicht. Erstens, weil Walnüsse zu teuer sind und zweitens, wenn ich einen ganzen Sack mit Walnüssen aufesse, werde ich satt und schlafe sicherlich ein. Der Nachtwächter hat keinen größeren Feind als den vollen Magen. Also keine Walnüsse.
Ich versuche mich wach zu halten mit aktiver Bewegung: Kniebeugen, Liegestütze und Sit-ups. Von der Seite sehe ich bestimmt wie ein Verrückter aus, der um drei in der Nacht Pilates betreibt.
Danach probiere ich, mich selber zu massieren. Ich kneife mir in die Wangen und schlage mir auf den Kopf. Ich drücke auf meine Schläfenarterie. Vielleicht gerade deshalb, werde ich noch schläfriger.
Musikhören hilft vielleicht gegen das Einschlafen, aber es geht irgendwie nicht, die ganze Nacht „Iron Maiden“ zu hören. Mit Mozart funktioniert es auch nicht. Ich bin ja der Wächter, ein Dieb könnte dann hinter meinem Rücken vorbeischleichen und etwas stehlen. Deshalb keine Musik.
Ich könnte auch nicht die ganze Nacht lang Kaffee trinken. Ich habe es schon probiert, nach dem dritten Kaffee fühle ich mich so, als ob ich zwanzig Zentimeter über der Erde schwebe und das gefällt mir nicht.
APA/ROLAND SCHLAGER
Zuletzt bewachte ich eine Bühne am Rathausplatz. Die ersten Tage regnete es fürchterlich und es wehte ein fast orkanartiger Wind. Ich sollte mich eigentlich mehr vorm Ertrinken als vorm Einschlafen schützen. Als das Wetter wieder gut geworden ist, musste ich eine neue Methode erfinden, um mich wach zu halten.
In den frühen Dienststunden ist es leicht – ich betrachtete die Menschen, die das Burgtheater verlassen und versuchte mir vorzustellen, wo jeder hin will. Es wird härter, wenn der Platz menschenleer wird. Ich ging auf der Bühne herum. Ich fing an, mich von ganz alleine an Theaterstücke zu erinnern, die ich mal gesehen habe. Ein bisschen Tschechow, ein bisschen Strindberg, ein bisschen Ionesco, ein bisschen Ibsen, ein bisschen Shakespeare. Ich versuchte, einige Monologe zu spielen.
Nein, ich bin kein guter Schauspieler, aber es ist schön auf einer Bühne zu stehen und dir vorzustellen, dass dir Tausenden applaudieren. Der Ruhm, sogar der imaginäre Ruhm hielt mich wach. Mein Publikum waren die Steinskulputuren auf dem Rathausplatz.
„Das Leben ist eine Bühne, und alle Menschen sind nichts als Schauspieler. Sie gehen ab und treten wieder auf." Das ist ein ganz banales Zitat, aber es stimmt. Ich bin keine einzige Sekunde eingeschlafen.