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Claus Pirschner

Politik im weitesten Sinne, Queer/Gender/Diversity, Sport und Sonstiges.

30. 5. 2014 - 17:57

Griechenlands neue Solidarität

Immer mehr BürgerInnen organisieren sich in Kooperativen. Ein Lokalaugenschein.

Das Linksbündnis Syriza ist in Griechenland bei den EU-Wahlen erstmals als stärkste Partei hervorgegangen. Syriza steht für eine Politik, die sich gegen den Abbau des Sozialstaates und die Sparmaßnahmen richtet.

In Griechenland ist in der Krise eine neue Solidarität entstanden: Sie zeigt sich in der Form vieler neu gegründeter Initiativen wie Sozialkliniken und Lebensmittelkooperativen. Dort engagieren sich Menschen unentgeltlich, weil der Staat gewisse Funktionen nicht mehr erfüllt, aber auch, weil sie die Verhältnisse ändern wollen. Sie streben eine Alternative zur derzeitigen weitgehenden Zerschlagung von Sozialstaat und Arbeitsrechten an. Viele, die sich in diesen neuen Initiativen engagieren, unterstützen auch die Syriza-Partei. Denn mittlerweile leben bereits drei Millionen Griechinnen und Griechen unter der Armutsgrenze, das ist fast ein Drittel der Bevölkerung.

Ich habe solche Kooperativen und Nachbarschaftshilfen in Athen besucht. Sind sie die Alternative zum aktuell krisengeschüttelten wirtschaftlichen und politischen System. Oder ergänzen sie dieses System nur oder unterstützen sie es ungewollt sogar teilweise?

Kooperative Athen

Claus Pirschner

Sesoula - ein Beispiel des Kooperativenhypes

Kooperative Athen Schild

Claus Pirschner

Vor drei Monaten haben sich der Wirtschaftsprofessor Petros Linardos, Studierende, RechtsanwältInnen und TechnikerInnen zusammengetan und die Kooperative Sesoula im Athener Stadtteil Exarchia ins Leben gerufen. Hauptziel ist es, eine Alternative zu Supermärkten zu schaffen und den teuren Zwischenhandel zu umgehen. Kooperativen verkaufen Waren direkt und produzieren sie zum Teil auch selber. Ohne Zwischenhandel bekommen die BäuerInnen so oft mehr für ihre Produkte und die KonsumentInnen steigen günstiger beim Kauf aus.

Rosarotes Waschmittel namens "Revolution", Jugendzimmer Athen

Claus Pirschner

Waschmittel Marke "Revolution"

Der kleine Sesoula-Laden hat alles: von Obst, Gemüse, Mehl, Milchprodukten oder Wein bis hin zum Waschmittel Marke „Revolution“. Petros Linardos sagt: "Das Waschmittel stellt ein Ingenieur her, der ursprünglich in der Industrie gearbeitet hat und sich entschieden hat, seine eigene Produktion mit niedrigem Verkaufspreis zu starten. So etwas geschieht oft, dass nicht nur Kooperativen sondern einzelne Leute beginnen, etwas selbst herzustellen, und es auf den Markt bringen." Petros Linardos ist Wirtschaftsprofessor und steht freitags immer ehrenamtlich im Verkaufsladen der Athener Kooperative Sesoula.

Die meisten der Mitglieder helfen neben ihren bezahlten Jobs in der Kooperative mit. Hier will man Leistbares und Nachhaltiges verkaufen: "Wir versuchen aus den typischen Marktprozessen auszusteigen, wo die Macht der Supermärkte vieles bestimmt: von der Art der Produkte, ihrer Qualität bis hin zu den Preisen. Uns geht es hier um eine demokratische Kooperation zwischen KonsumentInnen und ProduzentInnen. Wenn uns das gelingt, dann können wir viel erreichen in Sachen Gesundheit, Qualität und Leistbarkeit." Kürzlich hat sich Petros bei einem Treffen mit neunzig anderen solcher neu entstandener Kooperativen und anderen, ähnlichen Initiativen ausgetauscht. Gemeinsam bauen sie nun ein alternatives Netz an Verkauf und Produktion auf.

Kooperative Athen

Claus Pirschner

Und findet der Sesoula Laden Anklang im Viertel Exarchia? Petros versichert, dass die Einkaufenden nicht nur Menschen sind, die dringend gute und leistbare Lebensmittel und andere Produkte benötigten, sondern sie sympthatisieren auch mit der Idee der Kooperative.
Diese Idee geht allerdings nicht mit der üblichen Weise, ein Unternehmen zu führen zusammen, nämlich mit hierarchischen Strukturen. Und so haben die Mitglieder viel zu lernen: "Eine Kooperative stellt klassische Unternehmensstrukturen in Frage. Sie muss für die Ideen von allen, die mitmachen, offen sein, die Meinung aller in Betracht ziehen. Und jede/r hat etwas dazuzulernen, etwa wie man die Buchhaltung so eines Ladens führt", erklärt Petros. Und das Geschäft läuft gut, die erste Mitarbeiterin soll im Sommer angestellt werden, weitere sind geplant.

Mythen der Krise

Letztendlich steht Sesoula für eine Alternative zum bestehenden System, das in die Krise geführt hat, wie der Wirtschaftsprofessor betont. Zur Erklärung der Krisenursachen würden nach wie vor allzu viel Stereotypen herangezogen - Erklärungsversuche, mit denen Petros aufräumen will.

Kooperative Athen

Claus Pirschner

Petros Linardos beim Bepreisen der neuen Schokolade

Der erste Mythos sei, so Petros Linardos, dass die Europäische Kommission nicht gewusst hätte, was in Griechenland schief läuft. Seiner Meinung nach stimmt das nicht, schließlich seien EU-Vertreterinnen in Steuerungsgruppen gesessen, durch die EU-Gelder nach Griechenland geflossen sind, etwa in den Bereichen Industrie, Bildung oder Landwirtschaft.

Das Kapitel internationale oder europäische Mitschuld an der griechischen Krise hat viele Gesichter: die Investmentbank Goldman Sachs rät Griechenland 2001 zu milliardenschweren Bilanztricks zur Auslagerung und Verschleierung von Staatsschulden. Oder: die umfangreichen Rüstungsgeschäfte deutscher und französischer Unternehmen mit dem korrupten griechischen Verteidigungsministerium. (Mehr Einblicke zur internationale Verwobenheit der 'griechischen' Krise kann man in Jürgen Roth's "Der stille Putsch" nachlesen).

Petros Linardos sieht schon eine Eigenverantwortung Griechenlands für die Krise, aber dass "die Griechen im Allgemeinen" Schuld daran seien - das ist der zweite Mythos. Er verweist darauf, dass vor allem politische und wirtschaftliche Eliten die Krise verursacht haben. Die breite Bevölkerung zahlt also nun für die Fehler jener Eliten. Aber geht die Korruption nicht bis zum Pizzaverkäufer, der sie in Haus liefert und zwar ohne Rechnung? "In einer Gesellschaft, in der die ökonomischen und politischen Eliten korrupt sind und das jede/r weiß und sieht, da machen die Leute auf niedrigerem Steuerlevel das selbe. Denn sie haben entschieden, dass es keinen Sinn hat, dem Staat Geld zu geben."

Griechenland sei das Versuchskaninchen Europas, sagen mir viele in Athen: was dort an Abbau von Sozialstaat und Arbeitsrechten durchgeht, das könnte später auch anderswo Schule machen. Und das geschieht schon längst auch in anderen Ländern Europas, konstatiert Petros.

"Klar in Griechenland ist das gerade extrem. Aber Griechenland ist ein Test und zwar auch für ‚die andere Seite‘, also für Leute, die dagegen sind und die an nachhaltiges Wirtschaften glauben." Sesoula und alle anderen aus dem Boden sprießenden Kooperativen, die vierzig Sozialkliniken und die Nachbarschaftshilfen, sie alle sind Beispiele des alternativen Weges. Ob und wieweit er sich durchsetzen kann, hängt davon ab, wie breit diese Solidaritätsbewegung wird. Ob sie damit eine nachhaltige und alternative Wirtschaftsform aufbauen oder sich der Staat auf Dauer weitgehend aus der Sozialpolitik verabschiedet, ist noch nicht entschieden.