Erstellt am: 28. 5. 2014 - 09:05 Uhr
Not Afraid
Ich musste mich daran erinnern, dass wir hier – den Zeichen der Zeit folgend – nicht mehr das Album der Woche, sondern die/den Artist of the Week abfeiern. Ich finde das ja auch tatsächlich sehr gut so, selbst wenn ich in diesem Fall endlos viel über „In Conflict“, Owen Palletts erstes eigenes Album seit vier Jahren, loswerden hätte können, eine Songsammlung von sehr hoher textlicher und musikalischer Dichte, kein Konzeptwerk, aber sehr wohl thematisch schlüssig und voller beredenswerter Thesen/Antworten/Folgefragen zu den Fragen, die das Leben einem schwulen Mann über dreißig stellt.
(Oder überhaupt allen über dreißig, die draufkommen, dass die Welt doch nicht für sie gemacht wurde, siehe folgende unwiderstehliche Zeilen aus "On A Path": "From the top of the canyon we look down on what can be created by vote created by bill created by vote / You stand in a city that you don’t know any more spending every year bent over from the weight of the year before" - Nein, Jugendplatte ist das eher keine)
In anderen Worten: Über Artist und Album zu schreiben, ist in diesem Fall weitgehend dasselbe.
Ich traf den Hauptprotagonisten von „In Conflict“ also im März in einem Londoner Hotel. Weil es zwar mein Beruf ist, ich aber immer noch nicht professionell deformiert genug bin, einen Menschen, dem ich erst einmal je zuvor begegnet bin, ansatzlos über seine Kinderlosigkeit, seine Sexualität oder seinen Alkoholkonsum auszuhorchen, begann ich erst einmal etwas verkorkst mit einer technischen Angelegenheit.
Domino Records
(Ich übersetze/transkribiere:)
„Anfangs, als Final Fantasy, spielten Sie sehr viel mit dem Loop-Pedal, später aber auch mit einem vollen Orchester. Es gibt mittlerweile dieses Klischee von Loop-Pedal-Spieler_innen, bei denen man gleich merkt, was die machen werden. Wahrscheinlich werden sie einen Rhythmus bauen, vier Akkorde aneinanderreihen und bestimmte melodische Motive werden für Spannung sorgen, indem sie sich wiederholen, während die Akkorde einander abwechseln, undsoweiter. Wenn man jetzt Ihre Musik hört, scheint da beides drin zu sein: Einerseits brechen Sie aus diesen Formeln aus, andererseits suchen Sie auch selbst nach diesen erwarteten Begrenzungen. Ist das eine gültige Beobachtung?“
Owen Pallett: „Ja, absolut. Ich versuche immer Musik zu machen, die mich von meinen Kamerad_innen unter den Looping Musicians unterscheidet. Ich bin ein Fan, vor allem von Kaki King und Zoë Keating. Ich verehre die Musik, die sie machen, mit großer Leidenschaft. Aber ja, jedeR hat einen anderen Zugang. Merrill Garbus (tUnE-yArDs) geht mehr von einer rhythmischen Perspektive aus, und Kaki ist atmosphärischer und kriegt unglaubliche Sounds hin.
Früher einmal haben wir alle Line 6-Pedale oder Boss Loop Stations verwendet. Sehr simples Zeug, aber seitdem haben sich die Dinge stark weiterentwickelt, und wir verwenden alle ganz anderes Werkzeug. Zoë und ich verwenden Max/MSP, was uns viel mehr Flexibilität bei den Soundscapes erlaubt. Merrill hat dagegen alles noch verkleinert und verwendet das winzige RC-2 Pedal, das alles sehr brutal und aggressiv klingen lässt.
Es ist leicht, das Loopen [als Kompositionsmethode] abzuschreiben […] und ein Teil von mir will sich auch davon entfernen und einfach frei spielen und improvisieren, aber am Ende denke ich mir: Das ist, womit ich mir einen Namen gemacht hab, also werde ich es weiter tun, bis ihr keine Karten mehr kauft, hahaha.“
Als Nicht-Looper wußte und weiß ich zwar selbst nur begrenzt, wovon Owen Pallett da spricht, aber ich habe seine Antwort auf meine verlegene erste Frage hier in (beinahe) voller Länge aufgeschrieben, weil sie hervorragend illustriert, wie man sich Owen Pallett beim Gespräch vorstellen kann.
Domino Records
Erst einmal jederzeit bereit, sich mit einem einverstanden zu erklären, obwohl sich im Laufe seiner Antwort herausstellt, dass man mit seiner Frage ziemlich weit daneben lag.
Zweitens nicht scheu, eine umfassende, aber auch wirklich alles umfassende Antwort zu geben.
Drittens immer darauf bedacht, seine Kolleg_innen zu würdigen und die eigene Perspektive zu verlassen.
Viertens ziemlich schlau, und fünftens weiß er das auch.
Als ich ihn also Ende März zum Interview treffe, hat Pallett gerade als Reaktion auf einen Daily-Beast-Text des Jazz-Kritikers Ted Gioia, der sich über die völlige Abwesenheit jeder musiktheoretischen Auseinandersetzung im heutigen Musikjournalismus beschwerte, seine eigene musikologische Analyse des Katy Perry-Songs „Teenage Dream“ für Slate.com verfasst. Eine ziemlich interessante Abhandlung, die ich schnell noch vor dem Interview verdaut hab.
(Ich zu ihm:)
„Es gibt ja einen Grund, warum Sie sich ausgerechnet dieses Beispiel für Ihren Text ausgesucht haben. Leute, die selbst keine Musik machen aber sich ein Urteil darüber bilden, tun solche Popsongs gern als unintelligent ab, und Ihre Mission scheint zu sein, ihnen zu zeigen, dass was von außen einfach wirkt, tatsächlich ziemlich sophisticated sein kann. Aber darin liegt doch eine Falle, oder? Die Falle, dass man damit selbst den Fehlschluss perpetuiert, simpel sei nie gut genug.“
„Absolut. Ich stimme mit Ted Gioia 100%ig nicht überein. Ich habe auf Facebook geschrieben, dass die meisten Musikschreiber_innen keine Ahnung haben, was sie tun, wenn sie über Musiktheorie reden. Sie sind keine Musikwissenschaftler_innen. Das sind Leute, die so schreiben können, dass das Klicks generiert und unterhält. Die Leute lesen Musikjournalismus nicht, um eine musiktheoretische Belehrung zu erhalten […].
Ich wurde daraufhin online herausgefordert, einen musikologischen Text zu schreiben, und ich wählte Katy Perry, weil es vor allem Mainstream Pop ist, wo man diese westliche musiktheoretische Analyse anwenden kann. Zeug wie 'Get Lucky' oder Katy Perry. […]
Aber letztlich ist der Grund, warum ich mit Ted und seinem Artikel nichts anfangen kann, dass das nur mit Pop und Klassik, vielleicht Jazz und Filmmusik geht. Wenn man einmal zu R&B, Rap, Gospel oder World Music vordringt, bricht alles in sich zusammen. Es gibt keine 400 Jahre alte Geschichte akademischer Studien zur Beurteilung der Atemtechnik eines Rappers. Wenn man darüber wirklich technisch werden will, verrät das ein Element des Klassendünkels. Und wenn die Leute zum Beispiel in der elektronischen Musik technische Aspekte diskutieren, wird das bald sehr trocken. Es ist nicht wirklich interessant. […]
Ich liebe ja Musikjournalismus als Lifestyle-Reportage, und ich will wissen, was zum Beispiel Best Coast anziehen. Solche Dinge über Popstars zu lesen ist mein Entertainment, meine Version von Lindsay Lohan. […]
Wenn ich in meinem Text über [Katy Perrys Song] diese musikologische Sprache verwende, hat das aber auch eine Ironie in sich. Das ist schließlich, wie ich Musik konsumiere. Es gibt riesige Hits wie zum Beispiel 'It's Beautiful' von Miguel und Mariah Carey, die ich einfach nicht genießen kann, weil meine Erziehung und mein Background in der Kompositionslehre bedingen, dass ich darin einfach gar nichts hören kann.
Aber das ist nichts, worauf man stolz sein muss. Das ist etwas, was ich in mir unterdrücken will. Deshalb wollte ich diesen Artikel zunächst auch gar nicht schreiben. Ich will nicht den dünkelhaften Standpunkt unterstützen, dass Dinge, die einer westlichen Tradition zufolge gut komponiert sind, mehr gefeiert werden sollten als solche wie 'Beautiful', die vielleicht nicht so gut komponiert sind.“
Und angesichts all dessen würde ich zu meinem oben begonnenen Instant-Psychogramm des Owen Pallett vielleicht noch einen sechsten Punkt hinzufügen: Voller Widersprüche (siehe auch die gern von ihm gebrauchte Phrase "ein Teil von mir"), das aber auf eine sehr einsichtige Weise.
Owen Pallett will etwa nicht das Stereotyp des klassisch ausgebildeten, auf der Violine firmen Chamber Pop-Musikers erfüllen, andererseits weiß er, dass in seiner klassischen Ausbildung auch sein Kapital liegt.
„Die Leute schreiben das gern in meine Biographie, und sie sprechen es immer bei Interviews an, aber es ist ziemlich frustrierend für mich, weil so viele der größten Rockmusiker_innen der Welt auf die Musikschule gingen, aber darüber spricht keiner, weil sie eben Rockgitarre oder Schlagzeug spielen. Es ist nicht Teil des Dialogs über sie, aber es ist auch kein Teil von meinem Dialog, ungeachtet der Instrumente, die ich verwende […]. Es ist heute so leicht geworden, synthetische Instrumente statt Bläsern, Streichern oder Percussion zu verwenden, oder überhaupt gleich Musik zu machen, die keinen Gebrauch für diese Texturen hat. […] Es würde mich gar nicht traurig stimmen, wenn wir Kammerinstrumente völlig von den Bühnen verschwinden sehen.“
„Sicher?“
„Ja, denn das würde meine Musik noch spezieller machen. Haha.“
Siebtens also, oder vielleicht ist das auch nur eine Variante auf Punkt sechs: Pallett genießt das Paradoxon, egal wovon er spricht.
Zum Beispiel über seine Arbeit als Arrangeur und Musiker. Ganz ehrlich, wer die Liste großer Namen ansieht, denen er allein in den vier Jahren seit seinem letzten Album „Heartland“ auf Pay-what-you-can-Basis seine Talente geliehen hat, wird sich kaum wundern, wie da in einer musischen Seele innere Konflikte zustande kommen können: Duran Duran, The National, R.E.M., Snow Patrol, Linkin Park, Taylor Swift, Robbie Williams, Franz Ferdinand und natürlich Arcade Fire...
„Meine Überzeugung ist zu versuchen, so großzügig zu sein wie möglich. Das ist die Einstellung, der ich nacheifere. Vielleicht klingt das schlaff, aber es ist direkt von Steve Albini, dem Punk der Punks inspiriert, der sich immer als Erweiterung der künstlerischen Idee der Musiker_innen versteht und für so wenig Geld wie möglich, aber mit voller Verantwortung arbeiten will. Ich genieße es, an einem Projekt teilzuhaben, und es macht mich glücklich, wenn die Arbeit, die ich für einen Song geleistet habe, wieder weggelöscht wird. Es ist genauso gut, als Opponent zu agieren, der abgelehnt wird, wie der Star der Show zu sein. Das ist meine Freude als Arrangeur und sogar selbst als Künstler.“
Domino Records
Über diesen Umweg bin ich in meinem Interview dann doch noch zu den persönlichen Dingen vorgedrungen, die in den teils so offen emotionalen, romantisch breit instrumentierten, teils kristallin und schroff dahinpeitschenden Songs auf „In Conflict“ zu Tage treten, beginnend mit dem Opener „I Am Not Afraid“, der sein zentrales Problem „I'll never have any children“ als Refrain in die Welt hinausruft, in der ersten Strophe zunächst aus Transgender-Perspektive einer ze, die beschließt, auf diesen Teil ihres Lebens zu verzichten, und dann, in der zweiten Strophe, aus der eigenen Sicht:
„Ich rede in diesem Song strikt über die biologische Notwendigkeit, und wie sie sich zu der Eigendefinition von Gender verhält. Der Song klingt so, als sänge ich 'Ich werde nie Kinder haben' als stolzes, trotziges Statement. Aber da ist auch eine ziemliche Menge Traurigkeit dabei.“
Eine existenzielle Traurigkeit, die auch in Songs wie „The Sky Behind The Flag“ oder „The Riverbed“ auf eine Art zum Vorschein kommt, die ich zumindest von Owen Pallett so eigentlich nicht erwartet hätte:
„Riverbed handelt von dem Moment, den viele Leute so um die Dreißig herum haben, wenn sie sich entschließen, mit dem Trinken aufzuhören. Sie wollen mit den Parties aufhören. Diesen Song hab ich spezifisch geschrieben, um über diese Transformation zu sprechen. Es ist nichts Falsches dran, das auszulassen oder sich darauf einzulassen. Aber falls man sich entschließen sollte, den Kennzeichen des Erwachsenseins zu entgehen, ob das nun Nüchternheit, Vaterschaft oder Mutterschaft sein mag, dann ist der Protagonist des Songs auf jeden Fall gewillt, einen dabei zu begleiten. Es soll keine Zelebrierung des Alkohol sein wie so viele Trinklieder. Da fielen mir einige Schlager ein, haha. Nein, dies ist ein Song für den Kater danach. Für das Bedauern.“
Und auch dieses Lied kommt wieder auf das Thema von „I Am Not Afraid“ zurück:
„On the day that you find your thirties have left you childless / Remember when you meet your coupled friends with unease / The world will forget all the good they have done / And the world’ll forget any good you have done“
Selbst die Schlachtrufe haben hier also melancholische Untertöne.
Vielleicht, meine ich zu Owen Pallett, lese ich da ja auch zu viel hinein, aber so wie ich den Titel "In Conflict" interpretiere, sei sein Album eine Art Episodenfilm für das Kopfkino über Menschen in schweren, manchmal lebensbedrohenden Krisen - „spielt der Titelsong nicht am Ort eines Verkehrsunfalls?“
„Genau.“
„Und ist da in 'Soldiers Rock' nicht auch eine Revolution oder ein Bürgerkrieg im Gange?“
„Ja.“
„Ist das also sowas wie ein roter Faden?“
„Auf jeden Fall. Aber diese Platte mischt sich nicht ein, sondern sie steht zur Seite, Schulter an Schulter mit den Leuten, die in solchen Situationen sind.“
Kurze Pause, Nachsatz:
„Und oft bin das ich selbst gewesen.“
Er sagt das mit derselben Nüchternheit, in der er über Loop-Pedale referiert. Aber hinter den vielen, flott gefundenen Worten, der Vielarbeit und seinem ganzen souveränen Können blitzt eine unerwartete Verwundbarkeit durch. Und das ist wirklich sympathisch.
„The sun has set on me. There's a gap between what a man want and what a man will receive.“
(„Song for Five & Six“)
P.S.: Owen Palletts ausführliche Breitseite gegen Spotify am Ende des Interviews will ich nicht verleugnen, aber sie hätte hier den Rahmen gesprengt (Ausschnitt: „Spotify ist das einzige in den letzten 20 Jahren, wo ich definitiv sagen würde: Das ist das Schlimmste, was der Musikindustrie passieren konnte. Alles bis dahin war großartig. Ich liebe Youtube, liebe iTunes, bin so froh, dass CDs verschwinden, ich liebe illegale Downloads, aber Mensch, Spotify! Wenn wir eine Einberufung hätten für eine zivile Revolution, dann wäre das ein Kampf, für den ich mich erschießen lassen würde. Ehrlich, das ist so ein deprimierender Zustand, es macht mich körperlich krank, daran zu denken“). Ich werde noch darauf zurückkommen.