Erstellt am: 27. 5. 2014 - 11:02 Uhr
Eine Weltmeisterschaft – für wen?
Edson Campos kann Münzen in seiner Hand erstaunlich schnell zusammenzählen. Ein Blick reicht ihm, um den Wert der 8, 9 Münzen, die er in der Hand hält, abzuschätzen.
Johannes Schmidt
Das sei eine essentielle Fähigkeit, wenn man auf der Straße lebe, meint er. Die Münzen sammelt er gerade ein, weil er für uns eine Flasche Cachaça, also Zuckerrohrschnaps, besorgen will. Damit wir am Abend, nach einem langen Tag am ersten Kongress der von der WM-Betroffenen, ein bisschen feiern können.
Der Kongress findet Anfang Mai in Belo Horizonte, der Hauptstadt von Minas Gerais nördlich von Rio de Janeiro, statt. Er wird von den Comités Populares da Copa (Volkskomitees zur WM) veranstaltet. In jedem WM Austragungsort haben sich solche Plattformen gebildet. Es sind NGOs, WissenschaftlerInnen und Betroffene, die sich in diesen Komitees organisieren, um gegen negativen Auswirkungen der WM zu protestieren. Der Kongress will ein Vernetzungsforum für jene sein, die von der WM nicht profitieren – sondern ganz im Gegenteil teuer dafür bezahlen müssen. Edson ist aus Südbrasilien, aus Porto Alegre. Er ist die lange Reise nach Belo Horizonte angetreten, weil er Angst hat, während der WM aus dem Stadtzentrum in ein Anhaltezentrum außerhalb der Stadt verfrachtet zu werden – gemeinsam mit anderen Obdachlosen. Das könnte, so erzählt mir Edson, einen tödlichen Cocktail ergeben. Weil es auf der Straße Rivalitäten zwischen unterschiedlichen Gruppierungen gibt. Wenn man die falschen Leute in eine Unterkunft zusammenzwinge, könne es zu Gewalt kommen. Ob die Stadtverwaltung tatsächlich plant, Obdachlose in eigenen Lagern fern der Zentren unterzubringen, ist unklar. Aber das Misstrauen ist groß.
Edson ist nicht kein "Aushängeschildbetroffener", der mitgenommen wird, um seine Geschichte zu erzählen. In Brasilien ist es weit verbreitet, dass sich Betroffene von Menschenrechtsverletzungen, von Wohnungsknappheit oder von Landlosigkeit selbst organisieren und für ihre Rechte kämpfen. Natürlich mischen sich auch AktivistInnen und hauptamtliche NGO-MitarbeiterInnen unter die KongressteilnehmerInnen – aber es sind die Betroffenen selbst, die sich hier artikulieren und ihre Geschichten erzählen.
Johannes Schmidt
So wie Gabriel. Er ist 14 Jahre und kommt aus Fortaleza im Nordosten Brasiliens. Dort wohnt er in der Comunidade Lauro Vieria Chaves. Im Rahmen der WM soll dort eine Straßenbahn gebaut werden – und dafür, so meint die Stadtregierung, müssen 203 Familien aus der Comunidade gehen. Ihre Häuser sollen der Straßenbahn Platz machen. Aber die Comunidade beginnt, sich zu organisieren und protestiert bei der Stadt- und Landesregierung. Gabriel selbst beginnt mit anderen Jugendlichen Videos aufzunehmen, BewohnerInnen zu interviewen und die Baufortschritte zu dokumentieren. Diese Videos werden ins Internet gestellt, sowie auf öffentlichen Plätzen in der Comunidade gezeigt. Dabei wird auch immer wieder auf die bevorstehenden Umsiedlungen und auf Protestaktionen hingewiesen. So gelingt es ihnen, die Anzahl der umgesiedelten Familien von 203 auf 66 zu reduzieren. Denen, die gehen müssen, werden Ersatzwohnungen in der Nähe ihrer alten Häuser versprochen. Gabriel und das lokale Copa-Comité bleiben dran und dokumentieren die Umsiedlungen und auch die Fortschritte bei den Ersatzbauten. Bis alle Familien in ihren neuen Wohnungen einziehen, bis dahin wollen sie die Öffentlichkeit auf den Fall aufmerksam machen und den Druck auf die Verantwortlichen erhöhen, damit diese ihre Versprechungen auch einhalten.
Johannes Schmidt
Brasilien ist keine Diktatur. Seit dem relativ sanften Übergang zur Demokratie in den 80er Jahren hat sich das Land gewandelt – die Rechte der breiten Bevölkerung werden zwar nicht automatisch gewahrt, aber soziale Bewegungen können sich organisieren, demonstrieren und auch manche Forderungen durchsetzen. Der Rechtsstaat als solcher mag nicht vollständig funktionieren, zu unklar sind oft Besitzrechte, aber auch langwierige Gerichtsverhandlungen und korrupte Richter erschweren faire Verfahren. Trotz alledem: Es gibt limitierten Verhandlungsspielraum, auch für die eigentlich aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen. Durch den Zeitdruck vor der WM ist allerdings der Druck, die Projekte auch trotz hoher sozialer und ökologischer Kosten durchzuziehen, sehr hoch. Gleichzeitig wirft aber auch die internationale Öffentlichkeit ein Auge darauf, wie es denn um die Menschenrechtsstandards steht bei der Durchführung der WM – so auch die österreichische Kampagne nosso jogo. Und daraus entstehen für die Betroffenen Handlungsspielräume.
Wenig Verhandlungsspielraum gibt es gegenüber der FIFA selbst. Edson da Paz ist Straßenverkäufer aus São Paulo und engagiert sich gegen die harten Regeln, die um die WM-Stadien durchgesetzt werden: nur Getränke und Verpflegung der Sponsoren dürfen verkauft werden. Ambulantes, also Straßenverkäufer und -verkäuferinnen, die in Brasilien omnipräsent sind, werden ausgeschlossen vom Verkauf in und um die Stadien und Fanzonen.
Johannes Schmidt
Nur wenige bekommen eine Lizenz und müssen exklusiv Sponsorenprodukte vertreiben. Deswegen wird hier am Kongress in Belo Horizonte auch die Frage gestellt: Eine WM – für wen? Denn während sich die FIFA Milliardengewinne erwartet, große Bauunternehmen an Stadien- und Infrastrukturprojekten verdienen, müssen manche, die sowieso schon am Rand der Gesellschaft stehen, dafür bezahlen. Oder wie Gabriel es ausdrückt: als Fußballfan ist es ihm egal, ob diese WM in Brasilien oder in China stattfindet. Denn er wird sie sich höchstens im Fernsehen ansehen können. Als Bürger muss er aber mit seinen Steuern für die hohen Baukosten aufkommen – und konnte gerade noch verhindern, umgesiedelt zu werden. Warum also sollte er die WM begeistert im Land willkommen heißen?
Edson Campos hat endlich genug Geld zusammengekratzt und kommt mit einer Flasche Cachaça zurück. Die Flasche macht die Runde, ein paar Leute sitzen im Kreis, spielen Gitarre und singen und ich frage Edson, ob er einen Kontakt habe, wo man ihn erreichen könne in Porto Alegre. Er habe kein Handy, das würde ihm in der Nacht sowieso von der Polizei gestohlen werden, erzählt er mir. Aber ich solle doch einfach im Zentrum von Porto Alegre nach ihm fragen. Er sei dort bekannt. Viel könne er mir nicht anbieten. Aber eine Nacht auf der Straße in Porto Alegre, das sei doch sicher ein Abenteuer für mich. Dann lacht Edson laut und nimmt noch einen Schluck aus der Flasche.