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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

26. 5. 2014 - 15:35

Die Pointe des Abends

Auch die Briten wollen mehr Demokratie in Europa. Also haben sie als stärkste Fraktion eine Partei ins EU-Parlament gewählt, deren erklärtes Ziel dessen Sabotage ist.

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Ergebnisse des Wahlabends, Jugendpolitik in Europa und Analysen

So schockierend das britische Ergebnis also war, so wenig überraschte es.

Wie auch hier ausführlich berichtet, hatte die Dämonisierung alles Europäischen in den britischen Medien und im politischen Diskurs vor allem seit der Euro-Krise ein derart hysterisches Crescendo erreicht, dass der mit schwerer Zunge aus allen Pubs des Landes schallende Ruf "We want our country back!" schließlich auch auf dem Stimmzettel seinen zählbaren Niederschlag finden musste.

Verwundert zeigte man sich in Kontinentaleuropa gestern Nacht allerdings darüber, wie lange jener auf sich warten ließ: Wie kommt es, fragte sich Rest-Europa in diversen sozialen Medien, dass die Briten am Donnerstag als erste wählen und dann als letzte mit ihren Ergebnissen dran sind?

Man kann darüber spötteln, aber man muss nicht. Die britische Art, eine Wahlnacht zu begehen, hat nämlich schon was für sich.

Hierzulande wählt man bei den Unterhauswahlen ja die jeweiligen Abgeordneten pro Wahlkreis. Jeder dieser Wahlkreise ist seine eigene Insel, auf der erst alle Stimmen fertig ausgezählt, geprüft und ein Endergebnis verlautbart werden muss, bevor es zum Gesamttopf gezählt wird.

Nachdem im "First-past-the-post"-System auch hauchdünne, relative Mehrheiten zählen, geben nationale Hochrechnungen nicht so viel Aufschluss wie in Ländern mit Verhältniswahlrecht. Folglich zieht sich eine Wahlnacht auch wesentlich länger hin.

Pärchen auf UKIP-Flugblatt

Robert Rotifer

Hoffe sehr, dass aus dem netten Pärchen vom UKIP-Flyer auch was wird, wo UKIP nun gewonnen hat und "genug SPAREN kann, um für unsere Kinder die Wirtschaft zu heilen." Jetzt aber schnell diese Kinder machen, bevor der Wind sich wieder dreht.

Natürlich funktioniert die EU-Wahl auch in Großbritannien nach dem Proportionalsystem, aber die Präsentation der siegreichen Kandidat_innen in allen Wahlkreisen geht trotzdem nach traditionell britischem Muster in Form von der BBC übertragener Kandidatenparaden auf den Podien provinzieller Versammlungshallen über die Bühne. Und dabei kriegt man dann - bis man vor dem Fernseher einschläft - ein paar interessante Details zu sehen.

Zum Beispiel, wie im Wahlkreis des englischen Südostens ein Hardline-Europhober wie der konservative Euro-Parlamentarier Daniel Hannan sich auf dem Podium kumpelhaft zwischen Nigel Farage und dessen UKIP-Konsorten einreiht, während sich sein gemäßigter Parteikollege Richard Ashworth neben die Labour-Kandidatin Anneliese Dodds und den Grünen Keith Taylor stellt.

Letztere blieben übrigens in der Berichterstattung immer noch unsichtbar, obwohl sie einen Sitz in Brüssel dazu gewannen und jetzt dreimal so viele Abgeordneten stellen wie die Liberaldemokraten. Zugegeben, das heißt nicht viel, denn die haben seit gestern überhaupt nur mehr einen davon.

Wenn elf Prozent plus ein "Erdbeben" sind, zehn Prozent aber ganz schwach

Noch was zur medialen Wahrnehmung: In Prozenten gesehen war die UKIP die große Gewinnerin mit nach derzeitigen Zahlen etwa 11 Prozent Stimmenzuwachs gegenüber den letzten Europawahlen 2009 (die als Protestwahl gegen die damalige Labour-Regierung gesehen wurden). Labours kaum geringeres Plus von knapp zehn Prozent wurde in der Wahlanalyse des BBC-Politik-Redakteurs Nick Robinson dagegen als "sehr schlecht" dargestellt (den Konservativen bei ihrem Verlust von rund vier Prozent dagegen ein recht passables Ergebnis zugestanden).

Dahinter stecken nicht bloß Robinsons bei solchen Anlässen gern durchblitzende politische Sympathien (in den Achtzigern war er selbst Chairman der Young Conservatives), sondern auch die etwas perverse Logik des britischen Wahlzyklus: Während die Unterhauswahlen mit ihrem Persönlichkeitswahlrecht traditionelle Parteiloyalitäten und vorsichtiges Wahlverhalten fördern (Stimmen für in einem Wahlkreis schwache Partei sind verschwendet), gehören die Europa-Wahlen traditionell der Opposition.

In den Augen britischer Politicos hätte Labour also einen großen Vorsprung auf die Konservativen herausfahren müssen, um 2015 bei den Unterhauswahlen eine Chance zu haben. Das ist Ed Milibands Partei bei weitem nicht gelungen. Beide Fraktionen stellen (nach den letzten Ergebnissen) jeweils 18 EU-Abgeordnete, und in weiten Teilen Englands blieb Labour an dritter Stelle hinter den Konservativen und UKIP zurück.

Andererseits: Wenn UKIPs Erstarken die britische Politiklandschaft endgültig in ein Vierparteiensystem verwandeln soll (fünf eigentlich, aber von den Greens spricht wie gesagt niemand), muss Farages Partei 2015 relative Mehrheiten in Wahlkreisen erhalten. Und jene, wo die Chancen dazu am besten stehen (in den ländlichen und kleinbürgerlichen Gebieten Englands), gehören - in diesem Fall zu Labours Gunsten - fast ausschließlich den Konservativen.

Im multikulturellen London wiederum, wo Labours Botschaft von der Bekämpfung der hohen Lebenserhaltungskosten besser ankam als die Angst vor dem Fremden, erreichte UKIP vergleichsweise matte 17 Prozent. Labour setzte sich in jener Stadt, die immerhin den Erz-Tory Boris Johnson zweimal hintereinander zum Bürgermeister gewählt hat, mit 37 Prozent stark von den Tories mit 22 Prozent ab.

Auch in der Hauptstadt ist der Verfall des liberaldemokratischen Votums auf schlimme sieben Prozent (eine Halbierung) ein Phänomen mit für die kommenden Unterhauswahlen schwer voraussagbaren Konsequenzen: Viele wohlhabende Londoner Wahlkreise sind üblicherweise ein Duell zwischen Konservativen und Liberaldemokraten.

Aber in gewisser Weise bewege ich mich mit diesen Spekulationen auf demselben Holzweg wie die britischen Medien, die die EU-Wahlen den ganzen Wahlkampf lang nur als Vorspiel zu den "echten" Wahlen in einem Jahr darstellten.

Sicher, die von Premierminister Cameron für das Jahr 2017 versprochene Volksabstimmung über die britische EU-Mitgliedschaft, die er einstweilen völlig neu verhandeln will (bislang ohne Ergebnis), droht nun bis zum nächsten Mai alle anderen Themen zu überschatten: Die Konservativen und UKIP sind für die Abstimmung, nur zweitere haben sich aber schon fix für Austritt entschieden; Labour und die LibDems sind einstweilen dagegen, stehen aber unter zunehmendem öffentlichem Druck, "das Volk sprechen zu lassen".

Die wahre Ironie daran ist aber, dass Großbritannien nun 23 UKIP-Abgeordnete nach Brüssel schickt, die ihr Bestes tun werden, den britischen Auftritt dort so destruktiv wie möglich zu gestalten. Das bedeutet weder gute Karten für eine Neuverhandlung der Mitgliedschaft, noch für eine stärkere Rolle der demokratisch gewählten Gremien in Brüssel.

Verhärmte BNP beklagt rassistischen Stimmenraub

Doch so weit wollten viele potenzielle UKIP-Wähler_innen offensichtlich gar nicht denken. Ein beachtlicher Teil von ihnen fand nicht einmal bis zum U auf dem alphabetisch geordneten Stimmzettel. Stolze 230.000 britische Wähler_innen (knapp anderthalb Prozent) kreuzten die aufgrund ihres Namens ganz oben geführte Partei "An Independence from Europe" des 2013 aus der UKIP rausgeworfenen Europa-Abgeordneten Mike Nattrass an.

Ein gewisser Jack Duffin von der UKIP-Jugend berichtete von enthusiastischen Wähler_innen, die seinen Parteikolleg_innen beim Verlassen der Wahllokale entgegengerufen hätten: „Wir haben euch gewählt! Ganz oben auf dem Stimmzettel!“
Angeblich haben die so verirrten Stimmen UKIP zwei Sitze gekostet.

Ebenfalls seiner Stimmen beraubt sah sich Nick Griffin von der 2009 noch schockierend erfolgreichen, neofaschistischen British National Party. Im Interview mit dem Fernsehsender Sky News begründete er den Verlust seines Brüsseler Mandats immerhin ziemlich ehrlich damit, dass seine Ex-Wähler "stattdessen für die rassistische Politik von UKIP gestimmt haben."

Einerseits die Pointe des Abends, andererseits nicht gerade lustig.