Erstellt am: 18. 5. 2014 - 16:16 Uhr
The daily Blumenau. Weekend Edition, 18-05-14.
Auch 2014 online: der Versuch das Journal '13 (wie schon das von 2003, '05, '07, 2009 und 2011) durch ein kürzeres Format zu ersetzen, um so Täglichkeit hinzukriegen. Mit Items aus diesen Themenfeldern.
Das WM-Journal '14 wird sich, wie seine Vorgänger zu Welt- und Europameisterschaften seit 2000 vorrangig mit den sportlichen Fragen beschäftigen - die auch heuer in Brasilien augenfälligen Umfeld-Probleme werden auf fm4.orf.at von anderen kompetenten Menschen behandelt.
Eintrag 2 behandelte die ersten fünf anstehenden Fragen zuur WM.
Eintrag 1 war Dienstag, die fiktionale Bennenung des österreichischen WM-Kaders in der was-wäre-wenn-Fantasie.
#fußballjournal14
Gestern habe ich - als erstes Herantasten an die WM, jetzt wo die Kader ansatzwesie feststehen - hier versucht ein paar drängende Fragen zu beantworten: ob Europäer in Südamerika überhaupt gewinnen können, ob wieder die üblichen Verdächtigen (die Bande der Ex-Weltmeister) den Titel unter sich ausmachen, wer von ihnen gefährdet ist früh auszuscheiden, welche Art Überraschungen sein könnten, ob die aus Afrika oder Belgien kommen etc.
Heute stellen sich unter anderem die System- und die Deutschland-Frage...
Welche Rolle wird die Systemfrage spielen?
Ich denke, dass sich die Tendenzen von 2010 (WM) und 2012 (Euro) fortsetzen werden: natürlich ist es wichtig über eine Basis zu verfügen, also ein Grundsystem. Manche Mannschaften, auch die Favoriten, liefern sich sogar an ein solches System aus. Der entscheidende Faktor ist aber die strategische Flexibilität vor und die fluide Anpassung während des Spiels. Spanien hat die letzten Jahre nicht zuletzt deshalb dominiert, weil man sich nicht ausrechnen ließ und jederzeit auf praktisch alles umstellen konnte, vom 4-1-4-1 aufs 4-3-3 aufs 4-2-3-1 oder aufs 4-1-5-0 mit dem stilprägenden falschen Neuner. Das hat natürlich mit der Masse an Klassespielern zu tun, denen das jederzeit zumutbar ist, mit hervorragender Ausbildung und hohem Spiel-Niveau in den Vereinen.
In dieser Hinsicht am meisten aufgeholt hat Deutschland. Löws ursprünglich recht starres 4-2-3-1 ist nur mehr die Ausgangsposition für so ziemlich alles, was Spanien auch kann. Weil Löw ebenso über genügend Spieler verfügt, die er strategisch reinwerfen kann. Der italienische Ansatz war/ist ein anderer: auch Prandelli kann schnell zwischen 4-4-2 und 4-3-3 wechseln und auch sein Mittelfeld beliebig fluktuieren lassen: die Grundtonalität des Ansatzes bleibt aber verhalten. Zumindest drei Mitelfeldspieler werden immer vordringlich defensiv denken. Das macht Italien gegen Gegner, die sich taktisch falsch ausrichten, extrem gefährlich, verhindert aber wirkliche Gegenwehr im Fall eines Rückstands gegen einen Opponenten in Augenhöhe.
Wie die meisten WM-Teilnehmer (nicht ganz die Hälfte aller) werden auch Brasilien und Argentinien in einer 4-3-3-Grundformation auflaufen. Der entscheidende Unterschied: Coach Sabella ordnet sein System Lionel Messi unter, Coach Scolari nicht seinem Star Neymar. Dafür seinem Stoßstürmer Fred, der mit seinem Club Fluminense heuer absteigen musste. Nein, das ist zu polemisch. Brasiliens Direktorium (neben Scolari, der WM von 2002 ist das noch der Sportdirektor Carlos Alberto Parreira, WM von 1994) hat dem Personal Rechnung getragen. Und weil Brasiliens Fußball aktuell über keine klassischen Spielmacher-Typen in Form verfügt (bzw. ganze Generationen von Talenten vorschnell verschlissen hat) und die aktuelle Chelsea-Bande (Ramires, Willian, Oscar) das Maß vorgibt, ist die Verlagerung der Kreativität nach ganz vorne eine logische Folge. Neymar wird einen falschen linken Flügel spielen, sich mit Oscar abwechseln oder dem vorstoßenden Verteidiger Marcelo weichen und gern in die Mitte ziehen und insofern ohnehin jegliches System aufweichen..
Sabellas stellt Messi, dem Prototyp des falschen Neuners, zwei echte Stürmer zur Seite, die weniger als klassische Flügel, sondern eher als Anspielstationen weiter vorne dienen sollen: Higuain und El Kun, Maradonas Schwiegersohn Aguero. Dahinter soll Angel di Maria, der bei Real gelernt hat vom offensiven Flügel ins spieleinleitende Mittelfeld zu wechseln, für Zusatzenenergie sorgen. Was passiert, wenn Messi auf die eine oder andere Art ausfällt, ist unklar.
Diese Beispiele sollen zeigen: starre Spielanlagen sind nicht zielführend. Die Weltgegenden, die sie beherrschen, sind in Brasilien nicht vertreten - England hat sich wohl nur wegen der dringend notwendigen Umstellung auf ein fluides System gerettet; ein Umbruch, den man Roy Hodgson gar nicht zugetraut hatte.
Als kleineres Team mit vergleichsweise weniger gut grundausgebildeten, aber in den großen Ligen gut vertretenen Akteuren empfiehlt es sich, im Teamtrainingslager zwei, drei, vier Varianten zu entwickeln, mittels derer man dann bestehen kann (allein deshalb wäre die WM für Österreich mit seinen noch schwach entwickelten eineinhalb Systemen zu früh gekommen). Die Erinnerungsstichworte lauten Chile, Uruguay und Paraguay. Diese Mannschaften überlebten 2010 ausschließlich dank ihrer großen taktischen Flexibilität. Uruguay betreibt dies unverändert, aber mit einem deutlich gealterten Kader; und bei Chile hat die Bielsa-Doktrin überlebt - Coach Sampaoli wird sicher wieder taktisch überraschen, sieht sich jedoch mit einer völlig überzogenen Erwartungshaltung nicht nur im eigenen Land konfrontiert, Ähnliches ist bei Kolumbien der Fall. Im Gegensatz zu vor vier Jahren wird aber niemand mehr den Fehler machen die südamerikanischen Mittelmächte zu unterschätzen.
Ein wenig starrer werden die südosteuropäisch beeinflussten Teams (Kroatien, Bosnien, Griechenland, Schweiz) daherkommen. Flexibler und offensiver sind die afrikanischen Teams (inklusive Algerien) aufgestellt; vielleicht haben sich Japan und Südkorea in ihrer Entwicklung auch im strategischen Bereich wieder ein Stück verbessert..
Aus der Norm (neben dem 4-3-3 spielen noch je sechs bis acht Teams in einer 4-2-3-1 bzw. 4-4-2 Grundordnung) fallen nur die Mittelamerikaner: Mexico und Costa Rica kommen mit einer Dreier-Abwehr, die im Normal/Defensiv-Fall zu einer Fünfer-Abwehr aufgeblasen wird, und konzentrieren ihre Durchlässigkeit auf stets wechselnde Offensiv-Systeme.
Dass ein Teamchef all das komplett außer Acht lässt oder es wie das Gros der österreichischen Trainer nur für die Öffentlichkeit, aber nicht für die tatsächliche Arbeit akzeptiert und integriert, ist nicht mehr denkbar.
Wer wird der Lieblings-Exot der fußballfernen Event-Fans?
Ein Gefühl sagt mir: Honduras. Aber vielleicht auch nur, weil ich sie gar nicht einordnen kann. Ansonsten wird es die afrikanische oder südamerikanische Mannschaft sein, die im ersten Spiel in punkto Attraktivität das Herz zerreißt. Vielleicht wird es aber auch ganz banal Belgien.
Wie halten wir es diesmal mit Deutschland
Vor ein paar Tagen hätte ich noch gesagt: was für eine Frage? Das ist doch alles schon seit zumindest zwei Turnieren geklärt. Dann definieren Dorfer/Scheuba das in ihrem Fußball-Kabarett-Programm Ballverlust als "Qualitäts-Medien-Diskurs" und verunsichern mich. Und in einem Premieren-Party-Gespräch mit einer bekannten Figur des politischen Journalismus fallen mich die Zweifel dann an: es ist tatsächlich nicht common sense. Es gibt - auch intelligente - Menschen, die Deutschlands Team immer noch als Bande von Lothar Matthäussen sehen, an denen die letzten Jahre Löw’scher Entwicklungsarbeit spurlos vorbeigegangen sind. Auch weil sie - was wieder weniger für ihre Intelligenz spricht - davon ausgehen, dass gesellschaftliche Entwicklungen nicht entlang des Fußballs passieren können.
Dabei ist der DFB gerade dort Vorreiter. Was in Österreich eher zufällig, angesichts des Wurst-Erfolgs als Nebenprodukt abfällt, dafür haben Verband und Teamführung jahrelang gearbeitet. Das Hitzlsperger-Outing ist erst der erste Schritt - sollte die WM erfolgreich beschritten werden, sind weitere - und noch massiver in die Mitte der Gesellschaft reichende - Outings sehr wahrscheinlich.
In punkto Toleranz ist der hässliche Deutsche also längst passé, die egal ob gesellschaftlich oder sportlich an klobige Panzer-Attacken erinnernden Vorstöße der 90er-Generation, nur noch historisch von Wert. Gegen die Vertreter der aktuellen Generation wie Götze, Hummels, Lahm, Özil oder Reus nimmt sich selbst der Schlaueste der 90er, Thomas Helmer, wie ein schmieriger Gebrauchtwarenhändler aus.
Genau diese Entwicklung braucht Unterstützung; und weil das DFB-Team seit 2006 und vor allem post-ballack auch noch einen wunderbaren Ball spielt, ist ein Bekenntnis zum Nachbarn aus jedem erdenklich konstruktiven Grund möglich, vielleicht sogar nötig. Außer man ist ein echter Nationalist und bleibt in einem antideutschen Lebensprinzip verhaftet.
Oder man argumentiert wie Dorfer/Scheuba: die sagen, damit alles so bleibt, damit die neuen Fußball-Deutschen weiterhin die freundlichen, weltoffenen Jungs mit der neuen Wertehaltung sind, müssen sie verlieren. Also auf hohem Niveau, im Finale oder Halbfinale. Denn sonst droht der hulkische Ausbruch, der Verfall in alte Zeiten und Sitten, der Matthäus-Effekt, die Effenbergisiserung von Schweinsteiger und Co, der Kahn’sche Weltherrschaftsanspruch. Auch ein Modell: die Deutschen gut finden und darauf bauen, dass sie es nicht ganz schaffen und so die vorbildhaften Menschen bleiben, die sie öffentlich darstellen.