Erstellt am: 19. 5. 2014 - 10:44 Uhr
Die Straßen des Hip Hop
The Mayor of the Block
Zwei Wochen bevor er erschossen wurde, habe ich Kelly zum letzten Mal getroffen. Von der Food-Coop kommend bin ich mit unserem Kleinen die Grand Avenue entlang gegangen. Kelly machte, was er immer machte am Vormittag, er säuberte den Sidewalk und schlichtete Flaschen und Plastik in den Recycling Kübeln, die vor den Brownstone-Häusern am Block aufgestellt sind. Als er mich mit dem Kinderwagen kommen sah, fuhr er hoch, stemmte sein Hände in die Hüften und grummelte etwas Unverständliches in Richtung Sohnemann. Dann lachte er laut los, tippte dem Kleinen auf die Nase, wünschte uns noch einen schönen Tag und wandte sich wieder dem Sortieren von leeren Flaschen zu.
Christian Lehner
Es war eine Art Ritual, das sich zwischen uns etablierte seit der Kleine auf der Welt ist und wir nur noch selten in unsere alte Neighborhood von Clinton Hill kommen. Ich freute mich jedes mal, ihn zu sehen. Kelly war da, also war die Welt in Ordnung.
Noch hat die Polizei keinen Tatverdächtigen. Zeugen wollen in der Nacht auf den 14. März gegen 4 Uhr 30 mehrere Stimmen auf der Grand Avenue gehört haben. Dann ein lautes Lachen. Dann einen Schuss. Kelly starb am Weg ins Brooklyn Hospital an den Folgen der Schussverletzung in der Brust. Nur wenige Meter neben dem Tatort fand die Polizei den für homeless people typischen Einkaufswagen mit einigen Habseligkeiten.
Kelly war der „Mayor of the Block“, ein Obdachloser, der sich mit Jobs wie Einkäufe-für-alte-Damen-Erledigen, Schneeschaufeln oder Recycling über Wasser hält und im Gegenzug dafür von den Anwohnern etwas Geld und Nahrung, manchmal auch ein Dach überm Kopf bekommt. Sein Hoheitsgebiet war die Grand Avenue zwischen der Fulton Street und der Gates Avenue. Nur eine Häuserzeile weiter fand 2005 Dave Chappelle's legendäre Block Party mit Kanye West, Lauryn Hill, Mos Def, den Dead Prez u.a. statt:
Als wir vor sechs Jahren in Clinton Hill ankamen, nervte uns Kellys allnächtlicher Gesang alter Soul-Hadern. Kelly war der Gegenbeweis zum essentialistischen Vorurteil, wonach Schwarze automatisch gut singen können. Das Geheul hatte aber auch etwas Gutes. Wenn Kelly etwa „Stand By Me“ anstimmte, flüchteten nicht nur die Katzen, es bannte auch sämtliche Gefahren der Nacht. Man konnte zwar nicht schlafen, fühlte sich aber sicher.
Clinton Hill liegt zentral im nördlichen Brooklyn. Es ist eine malerische Brownstone-Neighborhood mit dunkler Vergangenheit. Zu den Hochzeiten der Crack-Epidemie Anfang der neunziger Jahre brummte direkt an Kellys Block ein Crack-House. Unter den ausgemergelten Gestalten, die mit der Pfeife in der Tasche und hohlen Augen für Nachschub anstanden, war auch er zu finden. So wie die ganze Neighborhood, benötigte Kelly Jahre, um sich von dieser Zeit zu erholen. Heute ist Clinton Hill eine der teuersten Wohngegenden Brooklyns. Die Gentrification hat ihre guten und schlechten Seiten. Wie so viele im Viertel beklagte der ehemalige Postbote den Verlust von Identität und Wohnraum für sozial Schwächere. Auf der andere Seite begrüßte er die Neuankömmlinge unvoreingenommen und freute sich über die Verbesserung der Infrastruktur und den Rückgang der Kriminalität.
Christian Lehner
Die Schatten der Vergangenheit wurde Kelly allerdings nie zur Gänze los. Genau so wie das Viertel. Mal sah ich ihn bei einem seiner seltenen Rückfälle mit gebrochenen Augen in einer Straßenecke den Drogenrausch ausdösen, mal war er für mehrere Wochen ins Gefängnis von Rikers Island verschwunden. Am westlichen Ende des Blocks hängen bis heute Crack-Veteranen ab. Unsere ehemalige Wohnung befand sich zwischen einem verlassenen Haus, aus dem gelegentlich kleine Päckchen aus dem Fenster segelten, sobald jemand unten eine bestimmte Melodie gepfiffen hat und einem Brownstone, das ein Finanzer kurz vor unserem Umzug um sehr viel Geld für sich und seine Famile gekauft hatte.
Es gibt zwei Brooklyns, so sagt man. Das "neue" und das "alte". In einer klaren Märznacht hat das alte den „Mayor of the Block“ geholt. An der Stelle, an der er erschossen wurde, stehen nun Kerzen und Blumenvasen. Alte Motown Singles und ein Foto von Kelly schmücken den Baum daneben. Manchmal, wenn ich unseren Kleinen vom Daycare abhole, drehe ich eine Extrarunde vorbei an dieser kleinen Gedächtnisstelle in unserer alten Hood. Wenn der Bub größer ist, werde ich ihm von Kelly erzählen. Stand by me, Mayor.
Street Cred
Christian Lehner
Nur zwei Straßen von der Grand Avenue entfernt, am St. James Place, treffe ich an einem verregneten Nachmittag im April LeeRoy McCarthy. Er hat ein Straßenschild dabei. Darauf steht „Christopher Wallace Way“. LeRoy ist vom Brotberuf Location Scout für die Filmindustrie. Seine wahre Leidenschaft gilt jedoch „everything Hip Hop“.
“Das ist der Block. Hier ist Christopher Wallace aufgewachsen. Hier haben sie auch einen Film über sein Leben gedreht ..“
McCarthy zeigt mit dem Finger nach oben in den grauen Himmel. Da soll es hin, das Schild, an die Ecke Fulton Street, St. James Place.
"... 1997, als Christopher Wallace gestorben ist, ist hier der Leichenzug durchgezogen. Die ganze Nachbarschaft war auf den Beinen“.
Christopher Wallace war besser bekannt als The Notorious B.I.G., Biggie Smalls oder bloß Biggie. Wallace war einer der berühmtesten Rapper der neunziger Jahre. 1997 wurde er in Los Angeles erschossen. In Brooklyn erinnert man sich noch heute an das pummelige Kid, das nicht nur eine große Klappe hatte, sondern auch einen Sinn für Nachbarschaftshilfe. In seiner späten Kindheit arbeitete Biggie als bagboy im lokalen Supermarkt an der Fulton Street. Später begann er sich für das Würfeln, illegale Substanzen und flotte Reime zu interessieren.
Christian Lehner
Zwei ältere Ladies fragen uns, was es mit dem Straßenschild auf sich hat und schon droppen sie eine Anekdote nach der anderen:
„Biggie war ein guter Junge. Er hat auf meine Großmutter aufgepasst. Sie war Pflegerin im Krankenhaus und kam oft spät nachts nach Hause. Er hat sie von der U-Bahnstation abgeholt und darauf geachtet, dass ihr nichts zustößt. Mit meinem Mann hat Biggie allerdings oft Unfug getrieben. Ich erzähle Ihnen lieber nicht, was die beiden alles angestellt haben.“
LeRoy stammt aus Flatbush in Brooklyn. Seit den späten neunziger Jahren lebt der 46-Jährige am Block, an dem Biggie aufgewachsen ist. Persönlich kannte er ihn von der Zeit, als LeRoy in Atlanta für Bad Boy Records gearbeitet hat, dem Label von Sean „Diddy“ Combs. Die Erfahrungen mit dem Rapper und die räumliche Nähe zu dessen Kindheitsstätte brachte ihn vergangenes Jahr auf die Idee mit der Unbenennung des St. James Place in Christopher Wallace Way.
„Biggie war ein cooles Kid. Kein Heißsporn, sehr überlegt. Als wir einander vorgestellt wurden, war er bereits ein etablierter Rapper. Ich mochte ihn. Und mit den Jahren habe ich gelernt, welchen Impact er auf die Community hier hatte und dass die Menschen sein Andenken bis heute im Herzen tragen.“
In McCarthys Apartment steht ein großes Glasbild des berühmten Rappers. Es ist eine Sonderanfertigung eines Freundes. The Notorious B.I.G. erscheint darauf als Heiliger. Lokale Volksvertreter sehen das allerdings anders. Der Antrag auf Umbenennung der Straße, den LeRoy vor einigen Monaten einreichte, wurde in erster Instanz abgelehnt. Die Begründung: zu viel Gewalt und Sex in den Texten. Und diese Leibesfülle! Definitiv kein Vorbild für die Jugend! Alles Einwände, die McCarthy so nicht gelten lässt.
“Hip Hop ist die Sprache der Straße. Die Raps reflektieren, was tatsächlich passiert. Das ist nicht immer schön, es ist auch nicht immer jugendfrei, aber es ist real. Man muss Hip Hop nicht mögen, aber man sollte zumindest seine kulturelle Leistung respektieren.“
Der Widerstand hat LeRoy McCarthy erst so richtig motiviert. Nun will er für jeden Stadtteil eine Hip Hop Straße: Die Wu Tang Clan Street für Staten Island, den Beastie Boys Square für Manhattan an jener Stelle, wo das Foto für das Albumcover von Paul's Boutique geschossen wurde und die Big Pun Avenue für die Bronx. Queens hat bereits seit fünf Jahren einen RUN DMC JMJ Way. In Brooklyn Heights wurde nach dem Tod von Adam Yauch ein Spielplatz nach dem Beastie Boys MC benannt.
Christian Lehner
“Diese Rapper haben unterschiedliche Hintergründe und Lebensgeschichten. Sie repräsentieren den kulturellen Mix und die Vielfalt der Stadt. Sie sind einfach durch und durch New York.“
Die Kriterien für eine Straßenumbenennung in NYC: Der Künstler muss verstorben sein (übrigens der Grund warum sich keine Frau in der Auswahl befindet, Lil' Kim u.a. are well and alive) – im Fall eines Kollektivs mindestens einer davon. Und das Wirken muss einen positiven Effekt auf die Community gehabt haben. LeRoy erklärt, was er Community-Aktivsten, Politikern und Journalisten schon ziemlich oft erklärt hat. Sein Flow wirkt routiniert und etwas genervt:
“Hip Hop hat die Stadt ökonomisch, gesellschaftlich und künstlerisch bereichert. All die Jobs, die hier geschaffen wurden – in der Musik- und Videoproduktion aber auch in der Fashion-Industrie. Artists wie die Beastie Boys haben mehr für die Überwindung von Rassismus getan als hunderte Regierungsprogramme.“
Für sein Vorhaben hat LeRoy McCarthy tausende Unterschriften im Netz und auf den Straßen gesammelt. Unterstützung kommt auch aus Europa, Japan, Brasilien und – die Beasties waren in dieser Sache sehr aktiv – einer tibetanischen Studentenverbindung. Vorerst liegen die Anträge bei sogenannten Community Boards. Das sind Bürgergremien, die meist mit älteren Stadtbewohnern besetzt sind. Zwei dieser Community Boards haben sich zwar bereits gegen den Christopher Wallace Way in Brooklyn und den Beastie Boys Square in Manhattan ausgesprochen. Ihre Entscheidung hat allerdings bloß empfehlende Wirkung. Jetzt kommt es auf den City Council, also den Stadtrat, und auf Bürgermeister Bill der Blasio an.
Bis im Juni soll sich entscheiden, ob die Straßen New Yorks ihren Hip Hop-Helden ein Stückchen Respekt zurückgeben. LeRoy McCarthy denkte jedenfalls nicht daran, bei einer eventuellen Ablehnung der Anträge aufzugeben.
„Fighters keep fighting. Verbitterung ist aber nicht mein Ding. Ich richte den Blick stets nach vorn. Um es mit Biggie zu sagen: „The sky is the limit!“ Oder mit dem Wu-Tang-Clan: „Protect your neck!“ Oder mit den Beastie Boys: “Fight for your right to party!” Oder mit Big Pun: “Never give up!”
Das erste Mal an diesem Nachmittag verziehen sich die dunklen Wolken aus LeRoys Kampfmine und es taucht ein breites Grinsen in seinem Gesicht auf.