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Johannes Schmidt Rio de Janeiro

Geschichten aus der WM-Stadt

16. 5. 2014 - 13:41

Freiluftmusik in Rio

Vom Mitsingen und öffentlichem Raum. Und warum Rios Tradition der großen Gratis-Straßenfeste den Regeln der FIFA möglicherweise in die Quere kommt.

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Der Pedra do Sal ist ein Kessel im Zentrum von Rio – umgeben von Hügeln und Felsen, die sich vom Platz aus nach oben in den Himmel recken. Der Platz ist bekannt für Musikevents: Sambagruppen wechseln sich mit Jazztrios oder Reggae-DJs ab. Als wir am späteren Nachmittag ankommen, sitzen um einen großen Tisch bereits mehrere SambamusikerInnen und performen akustisch, während in die Biergläser vor ihnen ohne Unterlass nachgeschenkt wird. Rundherum kann man eisgekühltes Bier kaufen – oder auch Feijoada, den klassischen Bohneneintopf aus Rio de Janeiro. Langsam füllt sich der Platz, manche beginnen zu tanzen, viele klatschen oder singen mit. Andere sitzen auch nur etwas oberhalb auf dem Felsen, trinken Bier, tratschen oder lauschen gemütlich der Musik in der Sonne. Manche AnrainerInnen schauen aus ihren Fenstern oder genießen auf dem Balkon ein Bier. Und weil hier keiner Eintritt kassiert, ergibt sich eine vielfältige Mischung aus Menschen – StudentInnen genauso wie PensionistInnen, Menschen aus der Peripherie und aus dem Zentrum, Schwarze und Weiße.

Freiluftmusik in Rio

Johannes Schmidt

So wie der Pedro do Sal werden in Rio viele öffentliche Räume für Musik und Party genutzt. Es herrscht eine nicht-kommerzielle Kultur hier – ohne Eintritt oder andere kommerzielle Zugangsbarrieren. Was nicht heißt, dass man nicht überall eisgekühltes Bier kaufen könnte, das von mobilen VerkäuferInnen auf riesigen Lastenrädern oder auf der Schulter in Styroporboxen transportiert wird.

Der Karneval ist ohne Zweifel die Mutter dieser Straßenkultur – im Unterschied zu anderen Städten, wie Salvador, wo er mittlerweile hochkommerziell und sehr teuer geworden ist. In Rio bietet er Bühne für eine Vielfalt an musikalischen Gruppen – Blocos, wie sie hier genannt werden. Das ganze Jahr über bereiten diese sich auf den Karneval vor – und nutzen für ihre Proben immer wieder öffentliche Straßen und Plätze.

Manche der Blocos spielen klassischen Samba, andere performen traditionelle Rhythmen aus dem Nordosten des Landes, zum Beispiel Samba Reggae oder Maracatu. Seit ein paar Jahren tauchen neue Gruppen auf, die berühmte Filmsongs oder Musik aus Computerspielen nachspielen oder Songs von Michael Jackson und den Beatles in Samba-Versionen.

Vor dem Karneval probte die 50-köpfige Sambaschule „Arteiros de Glória“ direkt am Gehsteig vor unserer Haustür. Die Zusammensetzung der MusikerInnen erinnert an Blasmusikkapellen in Österreich – PensionIstinnen, Kinder und Jugendliche musizieren gemeinsam, es sind die Menschen, die uns täglich im Viertel auf der Straße begegnen. Die Arteiros proben ihren eigens komponierten Karnevalssong, führen im Rahmen ihrer mehrstündigen öffentlichen Probe aber auch Sambaklassiker und die aktuellen, saisonalen Samba-Hits auf. Und natürlich bildet sich eine Menschentraube um die Bateria und die ZuseherInnen beginnen mitzusingen. Denn das ist wichtiger Bestandteil der öffentlichen Musikkultur: die MusikerInnen werden vom Publikum gesanglich unterstützt. Der Wohlklang ist dabei nicht oberstes Ziel: es geht um den gemeinsamen Moment und die gemeinsame Energie.

Auch die Proben vieler der großen, traditionellen Sambaschulen finden auf der Straße statt – und sind gratis zugänglich. Wir sind eingefleischte Fans von Salgueiro, einer Sambaschule, die jedes Jahr 3500 SambaschülerInnen auf die Straße bringt. 300 davon spielen in der Bateria, also in der Percussiongruppe. Der Rest tanzt – und singt. Und auch uns als Zuschauer geht der diesjährige Karnevalssamba nach der dritten Probe ins Blut über. Wir gehen zum großen Auftritt von Salgueiro ins Sambódromo – und gemeinsam mit 100000 anderen BesucherInnen singen wir über 70 Minuten den Samba unserer Schule im Loop, es wirkt hypnotisch. Jedes Mal, wenn das Lied von neuem startet, versuchen wir euphorisch mit noch mehr Energie einzusteigen. Es ist eine einzigartige Form zu feiern, die uns hier begegnet. Die Energie springt zwischen Sambaschule und Publikum hin- und her und noch Wochen später habe ich den Refrain im Kopf, summe ihn vor mich hin, im Lift oder in der U-Bahn. Und beginne ein bisschen zu verstehen, wie sich BrasilianerInnen ihr schier unerschöpfliches Liedgut anlernen: durch vielmaliges Abfeiern desselben.

Denn ob Samba oder Funk, Rock oder Forró aus dem Nordosten, Reggae oder Sertanejo: Viele Cariocas, so nennen sich die EinwohnerInnen Rios selbst, scheinen Texte und Melodien brasilianischer KünstlerInnen quasi inhaliert zu haben. Und es beschränkt sich nicht auf brasilianische Musik: am Karnevalsmontag gehen wir zu Sargento Pimenta, einer Gruppe, die Beatles-Lieder auf Sambarhtyhmen spielt. 120000 singen und springen mit.

Die Musik aus dem Nordosten hat starke afrikanische Wurzeln. Oft beinhaltet sie ein Frage-Antwortspiel. Das heißt: der Vorsinger singt eine Phrase, das Publikum wiederholt. Das Prinzip findet sich sowohl im Maracatu wie auch im Capoeira. Manche Blocos greifen diese Tradition auf und lassen ihr Publikum Dinge nachsingen, wie: "Und nächsten Sonntag – um 17 Uhr – in der Rua da Glória – spielt der Cinebloco – wir gehen alle hin". Oder auch Politisches, wie: "Não vai ter copa!" (Es wird keine WM geben).

Aus dieser tief verankerten Kultur, die den öffentlichen Raum für – zumindest die meisten Gruppen – gleichberechtigt nutzbar macht, entspringt auch ein Teil des Misstrauens vieler Cariocas gegenüber der FIFA: diese schränkt öffentliche Räume rund um die Stadien für die omnipräsenten mobilen BierverkäuferInnen während der WM ein und verlangt immens hohe Gebühren für die öffentlichen Fernseh-Großübertragungen der einzelnen Spiele. Und schon jetzt geht die Polizei mit massivem Gewalteinsatz gegen DemonstrantInnen vor. So richtig weiß keiner deswegen eine Antwort auf die Frage, ob die WM ein riesiges Straßenfest für alle werden wird – oder eine von Konflikten zwischen Polizei und DemonstrantInnen geprägte Zeit, bei der fürs Feiern nicht viel Zeit bleibt. Viel, da sind sich alle einig, wird von der Performance der Seleção abhängen: marschiert diese bis ins Finale durch, dann wird in Rio richtig fett gefeiert werden. Schließlich hat man lange genug dafür geübt.