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Erich Möchel

Netzpolitik, Datenschutz - und Spaß am Gerät.

15. 5. 2014 - 18:22

Netzthemen im EU-Wahlkampf wichtig wie noch nie

Die Live-Debatte der Spitzenkandidaten wird auch das Spitzenthema in Sozialen Netzen. Ein Videoclip der Kommission hatte davor 2,3 Millionen Zuseher erreicht.

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FM4 Homebase Europa: Das digitale Europa zwischen Datenschutz und Netzneutralität. Am Donnerstag, den 15. Mai, von 20 bis 21 Uhr auf Radio FM4 und hinterher für 7 Tage on Demand

Die heutige Diskussion der Spitzenkandidaten für die EU-Parlamentswahl ist gleich in mehrfacher Hinsicht ein Novum. Diese achte Parlamentswahl unterscheidet sich von den vorangegangen sieben schon einmal dadurch, dass die großen Fraktionen im EU-Parlament zum ersten Mal mit eigenen Spitzenkandidaten auf europäischer Ebene antreten.

Es zeichnet sich ein europaweiter Multimedien-Event ab, wie es ihn auf politischer Ebene bis dato noch nicht gegeben hat. Und: Noch nie zuvor haben das Internet und die damit einhergehenden Themen - zum Beispiel Datenschutz - eine nur irgendwie vergleichbare Rolle in einem EU-Wahlkampf gespielt.

Zur Übertragung durch die öffentlich-rechtlichen TVs in 25 Mitgliedsstaaten ab 21 Uhr kommt eine schwer abschätzbare Zahl von Live-Videostreams im Netz. Die EU-Kommission hat dafür schon vor Wochen eine breit angelegte Kampagne in den sozialen Netzen gestarte, auf Twitter lässt sich unter dem Hashtag #TellEurope mitdiskutieren.

Aktuell dazu im ORF
Die Debatte wird ab 21 Uhr live in ORF III übertragen. Auf ORF.at gibt es dazu die Hintergründe und aktuelle Reaktionen auf diesen ersten Höhepunkt des EU-Wahlkampfs

Virale Schafskampagne

Diese Kampagne hat bereits eine so nicht erwartete Wirkung gezeigt. Ein direkt an Erstwähler gerichteter Videoclip mit dem surrealen Titel "And then came a lot of sheep" ist mit mehr als 2,3 Millionen Sehern in nur einer Woche auf YouTube förmlich durch die Decke gegangen. Auch das ein absolutes Novum, dass sich nämlich ein reines Motivationsvideo obendrein für eine EU-Wahl "viral" verbreitet.

EU-Wahlkampagne "And then came a lot of sheep" (Youtube)

YouTube.com, European Parliament

"And then came a lot of sheep"

Von den insgesamt sieben Fraktionen haben sich fünf für einen eigenen Spitzenkandidaten entschieden, daher treten heute Jean-Claude Juncker (EVP), Martin Schulz (SPE), Guy Verhofstadt (Liberale), Ska Keller (Grüne) und Alexis Tsipras (Linke) gegeneinander an. Die beiden Rechtsfraktionen ECR und die offen europafeindliche EFD waren aus politischen Gründen nicht mit Spitzenkandidaten angetreten und sind deshalb auch nicht in der Diskussion dabei.

Der Videoclip "And then came a lot of sheep" ist aufwendig gemacht, rasant geschnitten und wie die gesamte Kampagne der Kommission an ein junges Zielpublikum gerichtet

Netzthemen im Wahlkampf

Die letzten, wichtigen Plenarabstimmungen im EU-Parlament betrafen jene Themen, die mit dem unaufhaltsamen Aufstieg des Internets zum allesdurchdringenden Breitenmedium stark an Gewicht gewonnen haben. Erst am 3. April hatte das EU-Parlament überraschend deutlich für die Beibehaltung und Festschreibung der Netzneutralität als Grundprinzip des Datenverkehrs über das Netz gestimmt.

Eine Koalition vor allem aus Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen stimmte für die technische Gleichbehandlung des Datenverkehrs auf der Transportebene. Die europäischen Telekoms hatten bis zuletzt versucht, dieses grundlegende Funktionsprinzip des Internetverkehrs zu kippen und dabei Unterstützung durch die Kommission sowie große Teile der Konservativen gefunden.

Mann mit Tauben, "And then came a lot of sheep" EU-Wahlkampagne

YouTube.com, European Parliament

"And then came a lot of sheep"

Paradebeispiel Netzneutralität

Das ganze Vorhaben war einer einfachen ökonomischen Logik gefolgt. Man wollte den europäischen Telekoms ein Instrument gegen die US-Internetkonzerne in die Hand geben, die als Serviceanbieter im Netz weit profitabler sind als Infrastrukturanbieter, die Internetzugänge zur Verfügung stellen.

Man wollte also dem europäischen Telekomsektor, der im lukrativen Geschäft mit reinen Internet-Services spielt, nur einen Vorteil verschaffen. Dafür war man allerdings bereit, die seit etwa 1975 ziemlich unverändert gültigen technischen und methodischen Prinzipien des Internets auf den Kopf zu stellen. Dieses egalitäre Prinzip sagt aus, dass jeder Knoten im Internet den eingehenden Verkehr nach "bestem Vermögen" ("best effort") gleich behandelt und weiterroutet. Nur dadurch und durch die zugehörigen freien Protokolle wurde das Internet zu dem überragenden Kommunikationsmittel, das es heute ist.

Das Abstimmunsergebnis sieht mit 534 Pro- und zwei Dutzend Gegenstimmen pro Netzneutralität zwar eindeutig aus, tatsächlich aber war es knapper. Die relativ wenigen umstrittenen Abschnitte wurden nämlich einzeln und gesondert abgestimmt. Anders als etwa im Nationalrat üblich, stimmte das Gros der in den Einzelabstimmungen unterlegenen Fraktion EVP dann dem gesamten Entwurf dennoch zu.

Grundrechte immer mit im Spiel

Wie immer, wenn es um netzrelevante Prinzipien geht, sind Grund- und Menschenrechte sofort mit auf dem Tapet. Eine Abkehr von der Netzneutralität hätte zum Beispiel einen massiven Eingriff in das Recht auf Informations- und Meinungsfreiheit bedeutet.

Wenn regionale Quasi-Monopole im europäischen Infrastrukturbereich mit dominierenden US-Serviceanbietern Verträge für bevorzugte Zustellung ihrer Datenpakete aushandeln können, dann bestimmt letztlich der Infrastrukturanbieter, welche Informationen der Nutzer in welcher Qualität abrufen kann. Gerade deshalb waren der Widerstand und die damit einhergehende Empörung im Netz so groß geworden, dass sie von politischer Seite nicht mehr wie früher übergangen werden konnte.

Charta der digitalen Bürgerrechte

Auf der bis jetzt wohl einflussreichsten, parteiunabhängigen Website zur Wahl Wepromise ist das Recht auf Informationsfreiheit als Punkt drei der zehnteiligen Charta für digitale Bürgerrechte ausgewiesen. In diesen zehn Punkten sind praktisch alle rund um das Internet neu entstandenen Themen enthalten, das zweite "Gebot" betrifft den Datenschutz.

Das Wort Netzneutralität mit Eicheln geschrieben

CC BY 2.0, flickr.com, User: redcctshirt

Auch da hat das EU-Parlament bereits gesprochen, die Novelle zur europäischen Datenschutzverordnung wurde mit überwältigender Mehrheit verabschiedet, obwohl es gegen einzelne Passagen bis zuletzt heftigen Widerstand gegeben hatte. Sowohl die Datenschutznovelle wie auch der Beschluss zur Netzneutralität liegen nun beim Ministerrat, der ebenfalls noch zustimmen muss.

Eine ganze Reihe von österreichischen EU-Abgeordneten sowie neue Kandidaten von Sozialdemokraten über die Neos, Grünen, bis zu Piraten und Unabhängigen haben die "Charta der digitalen Bürgerrechte" bereits unterschrieben.

Datenschutz und der Ministerrat

In diesem Rat aber, der je nach Sachthema aus wechselnden, nationalen Ministern besteht, gehen die Uhren im alten Takt. Dort wird noch immer hinter verschlossenen Türen verhandelt, über die europäischen NATO-Mitglieder, die jederzeit eine Mehrheit bilden können, aber die USA bestimmen mit, wie künftig europäische Politik gestaltet wird. Am Beispiel der Datenschutzverordnung ist dies im Moment deutlich zu sehen.

Neben Großbritannien und Frankreich blockiert auch Deutschland die Verabschiedung der Novelle im Ministerrat. Deutschland beruft sich dabei zwar auf das angeblich noch weiterreichende deutsche Grundgesetz, so recht glaubt jedoch niemand mehr in Brüssel, dass dies der eigentliche Grund sei. Tatsächlich läuft hinter den Kulissen nämlich das übliche "quid pro quo", das der Volksmund als schnöden "Kuhhandel" bezeichnet.

Komplexe Kuhhändel im Rat

Auch diese Methapher trifft es nicht ganz genau, denn die Tauschgeschäfte im Ministerrat folgen der jeweils aktuellen politische Lage, wobei das für Außenstehende kaum einschätzbar ist. Im Rat wird nicht Gleichwertiges sozusagen "Kuh um Kuh" verhandelt, hier geht es wesentlich vielschichtiger und komplexer zu, etwa "Tausche drei Schweine und vier Enten gegen fünf Maultiere."

Dass die Abstimmung zur Datenschutzrichtlinie erst im Frühjahr erfolgen konnte, lag am Ministerrat, der mit einem juristischen Manöver seit dem Herbst 2013 blockiert hatte. Angesichts des NSA-Skandals wollte man das Thema Datenschutz nach Möglichkeit aus dem EU-Wahlkampf heraushalten.

Je nach aktueller Themenlage werden da hinter verschlossenen Türen also die unterschiedlichsten (sicherheits-)politischen und ökonomischen Interessen auf nationalstaatlicher Ebene gegeneinander gestellt und verhandelt. Was da tatsächlich gegen was verhandelt wurde, ist meistens auch im Nachhinein für die Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar.

Netzpolitik im EuGH

Zu den aktuellen Entscheidungen des EU-Parlaments zu netzpolitischen Themen der letzten Monate kamen noch drei Urteile des EuGH, die ebenfalls nicht so erwartet worden waren. Das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung am 8. April stellte zwar die grundsätzliche Zulässigkeit einer solchen Maßnahme fest. Bei den Auflagen, unter welchen Umständen dies auch legal ist, hat der EuGH aber die Latte derart hoch gelegt, dass es de facto unmöglich wird, nach demselben totalitären Speicherungsprinzip aller Kontakte aller Bürger wie bisher zu verfahren.

Abgeordnete im EU-Parlament

Europa Parlament

Auch hier ist man bei einer grundrechtliche Frage, ob nämlich Strafverfolger anlasslos Sammlungen von den Kommunikationsdaten aller Bürger anlegen dürfen. Der EuGH hat dazu eindeutig nein gesagt und auf das Prinzip der Rechtstaatlichkeit verwiesen, dass eben nur dann ermittelt werden dürfe, wenn eine konkrete Straftat vorliegt und es einen diesbezüglichen Gerichtsbeschluss gibt.

Das Suchmaschinenurteil

Das erst am Dienstag ergangene, zweite EuGH-Urteil zu einem Internetthema hält die grundsätzliche Verantwortlichkeit von Suchmaschinenbetreibern wie Google für die Daten von Drittanbietern fest. Das Gericht kam zum Schluss, dass das "Recht auf Vergessenwerden" bis zu einem gewissen Grad auch im Internet gültig ist. Auch hier wird eigentlich nur die bürgerliche Rechtsordnung, die seit Jahrzehnten praktisch überall in Europa gilt, ins Internetzeitalter fortgeschrieben. So hat ein Vorbestrafter überall in Europa nach einer bestimmten Frist ein Recht auf Tilgung dieses Eintrags.

Die Entscheidung zum "Recht auf Vergessenwerden" im Internet vom Dienstag enthält auch eine Passage, die Geschäftsmodelle und Argumentationen von Google und Co. in Frage stellt.

In Österreich reichen die Tilgungsfristen von drei Jahren nach einer Veurteilung bei minderen Jugendstrafen bis zu 15 Jahren bei schweren Delikten. In jedem Fall gilt die Straftat danach als nicht passiert, ѕie darf nicht öffentlich thematisiert werden, außer wenn es dabei um eine Person von erheblichem öffentlichen oder zeitgeschichtlichen Interesse geht. Wann das gegeben ist, haben dann wieder Gerichte zu entscheiden.

Netzblockaden und ihre Zulässigkeit

Das dritte Grundsatzurteil des EuGH zur Netzpolitik im Jahr 2014 betrifft Netzsperren. Auch die wurden zwar für grundsätzlich zulässig erklärt, der österreichsche OGH, von dem der Fall ausging, wird nun zu klären haben, unter welchen Umständen dieses ebenso fragwürdige wie einfach zu umgehende Mittel eingesetzt werden darf.

Serverfarm

flickr.com, User MysteryBee

So ist es eine Sache, wenn Internetprovider während eines DDoS-Angriffs IP-Adressen von Rechner blockieren, die von kriminellen oder staatlichen Akteuren ferngesteuert werden. Ein völlig anderer Sachverhalt ist wiederum dann gegeben, wenn quasi auf Zuruf der Unterhaltungsindustrie wegen angeblicher Urheberrechtsverletzungen Websites geblockt werden sollen.

Das Urteil des EuGH zur Zulässigkeit von Netzsperren geht auf ein diesbezügliches Ersuchen des österreichischen OGH um die Rechtsmeinung des EuGH zurück. Das eigentliche Urteil samt Begründung wird also in Wien gefällt

Homebase Europa

    Wer nicht mitdiskutiert

    Auch bei der heutigen Diskussion der Spitzenkandidaten werden diese Themen zur Sprache kommen. Warum nur fünf der sieben Fraktion im EU-Parlament hier vertreten sind, ist leicht zu klären. Weder die von den britischen Konservativen David Camerons dominierte rechts- bis nationalkonservative ECR noch die offen europafeindliche Fraktion EFD wollten eigene europäische Spitzenkandidaten aufstellen, da dies ihrer grundsätzlichen Linie widersprochen hätte. Beide Fraktionen treten für eine relativ lose bis völlig informelle Rolle sowohl von Kommission wie EU-Parlament ein.