Erstellt am: 14. 5. 2014 - 16:16 Uhr
"Zu den Risiken & Nebenwirkungen fragen Sie..."
Können Feldmäuse eine kerntechnische Anlage lahmlegen? Warum mussten für das erste transatlantische Telegrafenkabel Abermillionen Bäume in Malaysia gefällt werden? Wieso haben die Spanier große Teile Mexikos zur Wüste gemacht? Warum ersteigerten Bauern im alten Japan die Fäkalien von Adeligen?
Pilo Pichler
Verena Winiwarter ist Professorin für Umweltgeschichte und Leiterin des Zentrums für Umweltgeschichte der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Österreichs Wissenschaftlerin des Jahres ist auch korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Zugegeben: Solche Fragen liegen nicht unbedingt auf der Hand. Umso spannender sind die Antworten, die man im Buch: "Die Geschichte unserer Umwelt – 60 Reisen durch die Zeit" finden kann. Österreichs einzige Umwelthistorikerin, Verena Winiwarter, hat es gemeinsam mit dem Ökosystemforscher Hans-Rudolf Bork geschrieben.
Über einen Zeitraum von sechs Jahren haben die beiden spannende, interdisziplinäre Studien zusammengetragen. Geschichten, die nachzeichnen, wie sehr wir Menschen unsere Umwelt gestalten und welche unerwarteten und vor allem unerwünschten Folgen dieses Eingreifen hat. Es geht um die schwarze Pest, den Siegeszug der Banane, Stalins Größenwahn, clevere, grönländische Wikinger und weniger clevere, britische Kolonialherren. Es sind dicht verwobene Erzählungen, die helfen, das so komplexe wie fragile Verhältnis zwischen Kultur und Natur, bzw. Mensch und Umwelt zu verstehen.
Willkommen im Anthropozän!
privat
Hans-Rudolf Bork ist Professor für Ökosystemforschung an der Universität Kiel. Er ist Ökosystemforscher, Geograph, Bodenkundler & Paläoökologe
Noch nie waren wir Menschen so viele und so einflussreich wie heute. Allein seit 1900 hat sich unser Einfluss auf die Umwelt mehr als vertausendfacht (IPAT-Formel). Und obwohl der Mensch nur eine von Millionen Spezies ist, beansprucht er heute ein Viertel der gesamten Biomasse des Planeten für sich.
Der Mensch ist zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden. Wir leben im Erdzeitalter des Anthropozän (wörtlich: "Das menschlich [gemachte] Neue"). Heißt: Wir krempeln alles um. Flüsse werden gestaut und verlagert. Meere, die Millionen von Jahren voneinander getrennt waren, verbinden wir mit Kanälen. Wir roden, pflügen, transportieren, vergiften und entwässern.
"Allerdings hat jede Intervention in natürliche Systeme neben den vorhergesehenen Folgen auch unbeabsichtigte Wirkungen, von denen die gesamte Menschheitsgeschichte gekennzeichnet ist", schreibt Winiwarter. Akribisch, plastisch und detailliert vermitteln sechzig illustrierte Fallgeschichten, welche Auswirkungen die Geschäftigkeit des Menschen hat.
Beispiel Transport
"80 % der Güter verbringen zumindest einen Teil ihrer Reise auf dem Wasser … Da sich leere Schiffe nicht gut steuern lassen, werden sie nach der Entladung mit Ballastwasser gefüllt. In jenem Hafen, in dem sie neue Ladung aufnehmen, wird es wieder abgelassen. Schätzungen zufolge werden dadurch täglich etwa 3000 Spezies von einem aquatischen Ökosystem in ein anderes transportiert." So gelangte in den späten 1970er Jahren auch die Meerwalnuss, eine Quallenart, quasi als blinder Passagier in das Schwarze Meer. Das hatte dramatische Auswirkungen auf das lokale Ökosystem: 1988 befanden sich im Schwarzen Meer hochgerechnet 900 Millionen Tonnen Meerwalnüsse. Ein Volumen zehn mal so groß wie der weltweite Fischfang im selben Jahr. "Im Schwarzen Meer gab es kaum noch Fische, weil die Quallen das Zooplankton auffraßen. Sie machten auf der Höhe ihrer Verbreitung 95% der gesamten Biomasse des Schwarzen Meeres aus... Mittlerweile gelangte die Meerwalnuss bis in die Ostsee."
"Geschichte unserer Umwelt", Primus Verlag 2014.
Transporttechnologien haben immense Wirkungen auf Ökosysteme. Pflanzen, Tiere & Mikroben reisen mit dem Menschen um die Welt. So auch mit den Schiffen, die während der mörderischen Kolonialzeit afrikanische Sklaven zu den karibischen Zuckerrohrplantagen lieferten. Mit den Sklavenschiffen gelangten unbemerkt zwei afrikanische Mückenarten auf die karibischen Inseln: die Anophelesmücke (Überträger der Malaria) und die Gelbfiebermücke. In den Zuckerrohrplantagen fanden diese Insekten hervorragende Lebensbedingungen vor. Die afrikanischen Sklaven hatten, genetisch bedingt, gewisse Resistenzen gegen das Gelbfieber. Die europäischen Soldaten, die zu Tausenden geschickt wurden, um die wertvollen Inseln zu verteidigen bzw. zu erobern, nicht: "Als der spanische Gouverneur von Havanna, Juan de Prado, 1762 nach neunwöchiger Belagerung durch die Briten kapitulierte, hatte das Gelbfieber begonnen sich auszubreiten. Wenig später waren 14.000 englische Soldaten tot …"
"Geschichte unserer Umwelt", Primus Verlag 2014.
Kein Phänomen des Erdölzeitalters
Das Buch "Die Geschichte unserer Umwelt" ist voll von tragischen Siegen. Megatalsperren, die heute selbst die gewaltigsten Flüsse der Erde stauen, produzieren mitunter zwar viel Strom, halten aber auch riesige Mengen an Sedimenten zurück (2,3 Gigatonnen!). Flussabwärts versinken dann ganze Deltalandschaften, weil sie auf den Materialnachschub angewiesen sind. Das kann uns nicht egal sein, denn Deltalandschaften sind nicht nur besonders fruchtbar und artenreich, sondern auch bevorzugtes Siedlungsgebiet von Menschen.
Ein weiteres Beispiel, bei dem fruchtbarer Boden verloren gehen kann, sind großflächige Rodungen. Wenn wir Wälder flächig roden, zum Beispiel um Ackerland zu gewinnen, heben wir den Grundwasserspiegel und nehmen dem Boden gleichzeitig die Fähigkeit, Wasser aufzunehmen. Kommt es dann zu starken Niederschlägen, sind die Folgen mitunter verheerend: Überflutungen und Erosion tragen fruchtbare Böden unwiederbringlich ab. Mühsam gewonnenes Ackerland schwimmt davon.
Diese Probleme sind kein Phänomen des Erdölzeitalters, wie wir in "Die Geschichte unserer Umwelt" nachlesen können: Im Mittelalter gab es in Mitteleuropa kaum noch Wälder. An ihrer Stelle waren Weiden und Felder angelegt worden. Im Juli 1342 gingen extreme Niederschläge auf die gerodete, kaum durch Vegetation geschützte Landschaft nieder. Der sintflutartige Regen dauerte sieben Tage und ging als "Magdalenenhochwasser" in die Geschichte ein. In manchen Regionen wurden die Böden schlagartig und teils vollständig abgetragen. Es wird etwa 120 000 Jahre dauern, bis sich dort wieder Ackerboden gebildet haben wird.
Primus Verlag
Naturereignisse werden also häufig erst durch menschliche Eingriffe zu "Naturkatastrophen". Aus Fehlern aber kann man lernen, argumentieren Winiwarter & Bork. Einen Umweltdeterminismus gebe es nicht. "Es geht nicht darum, dass uns die Natur irgendetwas Bestimmtes vorgibt", sagt Verena Winiwarter im FM4 Interview. "Wir treffen unsere Entscheidungen. Und weil es eben unsere Entscheidungen sind, ist die Umweltgeschichte auch eine Geschichte der Hoffnung: Wir können uns auch anders entscheiden." Und das ist dringend notwendig, denn die ökologischen Grenzen, denen wir uns stetig nähern, sind nicht von theoretischer Natur. Spezies sterben aus. Böden erodieren. Menschen hungern.
Vom Leben in der Risikospirale
Wie sollen wir Umwelt zukünftig gestalten? Diese Frage kann auch die Umweltgeschichte nicht beantworten. Sie kann aber gesicherte Informationen liefern, ohne die eine Gesellschaft nicht Vorsorge tragen kann. Wer es mit der Nachhaltigkeit ernst meint, ist auf den Blick in die Vergangenheit angewiesen, "denn wie Ärztinnen und Ärzte ihre Diagnose und Therapien auf einer Anamnese, also einer detaillierten Aufnahme der Krankengeschichte aufbauen, so sollten wir alle, wann immer wir mit der Umwelt zu tun haben, die langfristige Geschichte der Ökosysteme kennen und verstehen, ehe wir daran gehen, sie zu verändern."
So gesehen ist "Die Geschichte unserer Umwelt" auch ein politisches Buch. Eine unangenehme Lektüre für Fortschrittsideologen, die davon überzeugt sind, dass wir durch kühne und kraftvolle Technik die Natur bewältigen können. Atomkraft, Pestizide, Fracking, Megastaudämme… was kurzfristig als erfolgreiche technologische Errungenschaft gilt, kann langfristig Gesellschaften sehr verletzlich machen. Die Umweltgeschichte zeigt, dass ausnahmslos jede Innovation eine Nebenwirkung erzeugt, die wiederum neue Risiken schafft, neue Unsicherheiten. Auf diese antworten wir mit Innovationen, die neue Nebenwirkungen… usw. usf.
"Der sicherste Weg in die Zukunft führt über die Lehren aus der Vergangenheit", ist Österreichs Wissenschaftlerin des Jahres überzeugt, nicht über modellierte Prognosen. Die sich ständig verändernde Erde und die Menschen, die sie seit Jahrtausenden zu gestalten versuchen, sind ein "grundsätzlich nicht vollständig zu verstehendes und schon gar nicht berechenbares System… Im Sinne einer Verantwortung für künftige Generationen ist es klüger, sich die natürlichen Systeme als fragil vorzustellen, denn es ist besser, auf der sicheren Seite zu irren."
Plädoyer für den vorsorgenden Weg des geringsten Risikos
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft lagern Probleme gerne an eine alles berechnende, "sichere" Wissenschaft aus. Mit teils fatalen Folgen, wie ein Blick in die (Umwelt-)Geschichte zeigt. "Die uns vertrauten Ursache-Wirkungs-Beziehungen greifen nicht, wenn wir es mit komplexen Systemen zu tun haben … Schwellenwerte, bei deren Überschreitung ein System in einen neuen Zustand gerät, der keine lineare Weiterentwicklung des alten ist, überraschen uns." Was vorderhand abstrakt klingt, bekommt in Winiwarters und Borks sechzig Erzählungen ein plastisches, nachvollziehbares Gesicht.
"Geschichte unserer Umwelt", Primus Verlag 2014
"Die Geschichte der Umwelt" ist kein akademisch-theoretischer Schinken, und auch keine "Chronik der Umweltsünden". Es sind 165 Seiten stichhaltiger Argumente für die Utopie einer nachhaltigen Gesellschaft. Ein Plädoyer für den Mut zum komplexen Umgang mit komplexen Problemen, verpackt in unglaubliche (und im Besten Sinne lehrreiche) Geschichten. Das Buch erlaubt wertvolle Einsichten. Allen voran vielleicht jene, dass wir nicht alles tun sollten, was wir tun können.
P.S.: „Wir müssen nichts so machen wie wir’s kennen, nur weil wir’s kennen wie wir’s kennen…“ (Die Sterne)