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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

12. 5. 2014 - 19:11

The daily Blumenau. Monday Edition, 12-05-14.

Europa hat Conchita Wurst gewählt, Österreich nicht. Über das in diesem Licht besonders unerträgliche Im-Nachhinein-Super!-Getue.

Auch 2014 online: der Versuch das Journal '13 (wie schon das von 2003, '05, '07, 2009 und 2011) durch ein kürzeres Format zu ersetzen, um so Täglichkeit hinzukriegen. Mit Items aus diesen Themenfeldern.

Das daily ist zwischen 9. und 11. 5. ist wegen einer anstrengenden Verkühlung ausgefallen. Der heutige Eintrag dockt deshalb zufällig direkt an den vom 08-05 an

#songcontest #sexualpolitics

Die Wurst lag auf dem Mittagstisch; als Thema, auch an diesem eigentlich den Müttern vorbehaltenen inoffiziellen Festtag. Der Opa fragte bei uns nach, ob die Dame mit dem Bart jetzt ein Zwitter sei oder nicht oder was, die Oma kicherte über die anzüglichen Anspielungen ihres Gatten, die Schwägerin berichtete was Conchita in ihrer argentinischen Heimat bedeuten würde; alles ganz unaufgeregt. Nur die Schwiegermama hing am Bart fest, verfing sich schnell in Ästhetik-Argumenten, blieb aber in der "Das muss nicht sein!"-Fraktion merklich allein.

Ein scheinbar ganz normaler Sonntag im Land Österreich. Einem Land, das einen historischen Kultursieg an der an sich unnötigsten Front überhaupt erreicht hatte: bei einem künstlerisch lachhaft bedeutungslosen Popschlager-Bewerb.

Nun hängt am ESC aber mittlerweile so viel interkontinentales Gewicht, dass sogar der vorsintflutliche Erfolg von Udo Jürgens anno dunnemals im Nachhinein zum bedeutungsvollen Akt hochpubliziert werden muss. Denn der Songcontest der Eurovision ist einer der ganz wenigen, vielleicht sogar der einzige Moment, in dem ein gemeinsames Narrativ geteilt wird, der einzige europaweite Feuerstellen-Moment des Jahres, der einzige Halbtag zum gegenseitigen Abchecken. Eh ein bissl so wie eine Familienfeier, wo Menschen zusammenkommen, die vielleicht sonst das ganze Jahr nicht miteinander sprechen.

Das klappt natürlich auch nur deshalb, weil es eben um nichts geht; nämlich darum, eine der vielen Gesangseinlagen bei solchen Feiern (und die sind - das liegt in der Natur der Sache - unendlich mehrheitstauglich und deshalb auch sehr gern sehr peinlich) zur Lustigsten/Besten zu wählen. Weil es ein klares Regulativ gibt, und weil echt jeder jedes Jahr eine echte Chance auf diesen Sieg hat, geht sich diese europäische Begegnung aus. In jedem anderen Bereich, vor allem in solchen, in denen ein Quäntchen Ernsthaftigkeit liegt, wäre das völlig unmöglich.

Es ist ein schönes Paradoxon und es erzählt auch viel über Europa: Der ECS hat Größe in seiner Unwesentlichkeit - die ihm wiederum Größe verleiht.

Unter anderem auch darüber, wie unterschiedlich Europas Eliten und Europas Basis die Dinge sehen. Lassen sich die Differenzen politisch noch recht klar an der Klippe Neuzeitliche Komplexität/Sehnsucht nach Überschaubarkeit/Auffangbereiter Populismus festmachen, sind die beim ESC über die gesellschaftspolitische Verhaltenheit definiert. Die Wertungs-Jurys, nominell zwar auch zumeist Künstler oder Musikbranchler, aber eben Mandatsträger, die in ihren gesellschaftlichen Konventionen drinstecken, wie die pure biedere Erzreaktion im eben nur scheinlässigen Sido, waren so wenig weit und wagemutig wie der durchschnittliche VP-Politiker. Die im Osten noch weniger als die im Westen.

Den Publikums-Votern widerum war's nicht nur vergleichsweise wurscht, ob jetzt Frau oder Mann, Bart oder Nicht, sie haben diese sichtbare Differenz auch noch lustvoll thematisiert. Auch die im Osten, wo das Telefon-Voting teilweise erstaunliche Wurst-Zustimmung brachte.

Am vielzitierten Schwulen-Lobbying kann's nicht liegen, dazu ist der Stimmenanteil insgesamt zu hoch - und in Russland etwa gibt es bekanntlich gar keine, in vielen anderen sehr orthodox geprägten Gesellschaften auch nicht. Keine starke Lobby, meine ich.

Die Zahlen jedenfalls erzählen von einer großen Koalition jener, die die gesellschaftspolitische Botschaft verstehen und mitweitertragen wollen mit jenen, die kein Problem mit Toleranz und Akzeptanz haben bis hin zu jenen, die da an sich ihre Schwelle aufbauen, sich aber angesichts der offensichtlichen Lust an der Freude haben hinreißen lassen. Und das ist ein Türöffner, ein europäischer.

Hier geht es nicht um Entzweiung, um Ost gegen West, um ukrainische Stellvertreter-Konflikte, um Gräben, sondern um Zuschütter im Nicht-Forcher'schen Sinn. Und auch damit läuft diese europäische Entwicklung, dieses kleine Tischgespräch, dieses Alljahres-Narrativ heuer in eine einigende, nicht ausgrenzende Richtung, ganz gegenläufig zu allen anderen Entwicklungen.

Ich würde daraus nicht den Schluss ziehen, dass die Eliten es dem Plebiszit nachmachen und auch die anderen stockenden Konflikt-Zonen durch nachgebende Freizügigkeit und mehr Lässigkeit auszuräumen. Sobald nämlich der Alltag und das nahe Hemd und das Fressen vor die Moral tritt, sind auch die bestmeinendsten Abstimmer ganz schnell wieder an der Frontlinie.

Es gibt nur drei Länder ohne Volks-Punkte für die Wurst: das überkatholische Polen, das diktatorische Belarus und ... Österreich.

Conchita Wurst wurde von Europa gewählt, per landslide.
In Österreich aber nicht.

Ein Blick ins Vorfeld zeigt das: zwei der drei großen politischen Bewegungen des Landes waren nicht erfreut, Strache glaubte, einen von Herrn Poier aufgelegten Sitzer verwerten zu müssen. Innerhalb der Eliten herrschte uneiniges Geunke, ermutigende Stimmen kamen eigentlich nur aus der Ringecke der üblichen Verdächtigen. Die Musikbranche verhielt sich ruhig, man war bereit bei einem Misserfolg dem nationalen Ausrichter für dessen Alleingang-Entscheidung eine aufzulegen. Schließlich gab es ja bereits einmal ein ESC-Plebiszit - und das hatten zwei Techno-Gaballiers mit älpischer Apres-Ski-Erotik für sich entschieden. Frau Wurst wurde da nur Zweite. Zuvor bei der Großen Chance, ihrem öffentlichen Debut, gar nur Sechste.

Dass sie heuer antreten konnte, war eine Entscheidung gegen das aktuelle Volksempfinden. Eine Entscheidung gegen stammtischweitherrschende FP-Homophobie, eine Entscheidung gegen die abwiegelende und gesetzliche Verbesserungen in diesem Land verhindernde ÖVP-Closet-Politik, eine Entscheidung gegen die naserümpfenden Kirchen-Interessen.

Seltsamkeit am Rande: den überall zitierten Lady Gaga-Tweet; ich kann ihn nicht und nicht auffinden...

Es war die Entscheidung eines öffentlich-rechtlichen Senders, seine Kernaufgaben, nämlich die Entwicklung und Vorantreibung eines aktiven gesellschaftlichen Diskurses nicht nur in Sonntagsreden, sondern auch per Symbolpolitik sichtbar zu machen. Ohne dazwischengeschaltenes Voting, ohne audience participation, den Garantie-Blocker für Riskantes, den Fahnentrager des Bewahrens. Und das ganz ohne velvet mafia-Entscheidungsträger. Ein hohes Risiko, dass bei Misslingen in jahrzehntelangem blöden Nachtreten enden hätte können. Derselbe Boulevard, der "unsere" C. voyeuresk begleitet hatte, war bereit, sie im Fall eines Absturzes sofort zu schlachten - und alle Mitschuldigen dazu.

Jetzt finden's alles super.
Jetzt waren alle mit dabei; beteiligt, ursächlich.
Jetzt tun alle so als ob, auch die Poiers und Straches.
Was in Wirklichkeit gedacht wird, wird sich nicht über Nacht geändert haben.
Zumindest nicht in Österreich.

Europa hatte eine Samstag-Nacht Zeit, sich zu einer gemeinsamen Aussage durchzuringen. Und die Chance genutzt. Österreich war nicht dabei. Und hat im Vorfeld eine wenig rühmliche Figur gemacht, sich erstaunlicherweise an der nationalen und internationalen Homophobie orientiert, die alte Khol-Linie vertreten anstatt die neuen Rupprechter-Vorstellungen

Österreich darf sich jetzt daran machen den europäischen Vorsprung einzuholen. Mit sichtbaren Taten, mit seriöser Gleichstellung gesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten. Und mit einem ernstgemeinten Ende der minderschätzenden Häme für Andersartigkeit. Für die es nämlich (Stichwort Leistungsgesellschaft) jetzt auch keinen Grund mehr gibt.