Erstellt am: 19. 5. 2014 - 14:35 Uhr
Einfach alles hinschmeißen
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Vor einem Jahr hat sich in den USA ein spektakulärer Fall aufgeklärt: Eine 54-jährige Frau ist nach elf Jahren Vermisstsein wieder aufgetaucht: Sie hatte 2002 ihre Kinder in die Schule gebracht und war danach verschwunden. Wie sich danach herausstellte, hatte sie sich spontan einer Gruppe junger Leute angeschlossen und ist durch die Gegend getrampt, teilweise hat sie auf der Straße gelebt. "Ich bin damals einfach ausgerastet" hat sie der Polizei als Grund angegeben.
Menschen, die einfach so abhauen, gibt es immer wieder. Öfter sind es Männer als Frauen, die vom Zigaretten-Holen nicht mehr zurückkehren. Thomas Weiss hat sich dem Thema in seinem Roman "Flüchtige Bekannte" gewidmet. Alles beginnt damit, dass eine Frau namens Maren verschwunden ist.
Maren, 42, die nicht anders wirkte als sonst. Gegen 20 Uhr verließ sie die Wohnung in Turnschuhen und Pullover. Um Mitternacht ging Berthold zu Bett und fand er merkwürdig, dass sie immer noch arbeitete. Um 3 Uhr wachte er (...) auf, merkte, es lag niemand neben ihm.
Berlin Verlag
Ich-Erzähler Joachim ist Journalist und der verschwundenen Maren auf der Spur. Seine Frau Anne hat deren zurückgelassenen Mann Berthold in der Pilates-Stunde kennen gelernt. Joachim interessiert die Story, er bringt sie auf der Lokalseite der Zeitung, für die er schreibt. Daraufhin hagelt es Zuschriften von LeserInnen, die Maren gesehen haben wollen. Eine davon mit einer konkreten Spur zu einem Ferienklub.
Ich sah vier lachende Männer in Weiß auf einem Tennisplatz im Halbkreis am Netz gruppiert (…) in der Mitte die lächelnde Trainerin, die, das war mir sofort klar, Maren sein musste. Sogar die Pferdeschwanzfrisur war dieselbe.
Joachim erzählt niemandem davon, dass er Maren gefunden haben könnte, weder ihrem Mann noch der Redaktion. Sondern er macht sich auf eigene Faust auf den Weg in den Ferienklub, um sie zu treffen. Warum, ist ihm selber nicht ganz klar. In seinen Inneren Monologen erfahren wir, dass er in Beziehung und Arbeitsleben ganz schön unter Druck steht: Er und Anne sind Mitglieder einer Baugruppe, gerade wird das Haus mit ihrer künftigen Eigentumswohnung gebaut. Gleichzeitig haben sie sich damit einen großen Kredit aufgehalst.
Anne als Beamtin besaß einfach die größtmögliche Sicherheit. (...) Was mich betraf, lagen die Dinge anders. Mein Pauschalistenvertrag mit der Zeitung ein Glückfall, ein Sechser im Lotto - heute eigentlich undenkbar - , doch die Zahlungsunfähigkeit der Rundschau neulich, wo alle aus allen Wolkengefallen waren (...) schockte mich. Würde es zum Schlimmsten kommen, könnte ich mich einsalzen lassen, darüber machte ich mir keine Illusionen. Ein neuer in Job in meiner Sparte war einfach aussichtslos.
Thomas Weiss: "Flüchtige Bekannte" ist 2014 im Berlin Verlag erschienen.
In gewisser Weise bewundert Joachim Maren dafür, dass sie so radikal war, und alles einfach hingeschmissen hat. Er selber scheint unbewusst ähnliche Wünsche zu haben. Immer wieder malt er sich aus, wie Maren es angestellt haben könnte, auf der Reise stellt er sich vor, wie es wäre, wenn sein Flugzeug abstürzen würde.
Abwechselnd mit Joachims Gedanken gibt es in "Flüchtige Bekannte" immer wieder Einschübe von einer Frau, ebenfalls eine Art Tagebuch oder Innerer Monolog. Es ist Maren, kommt mit der Zeit heraus, die tatsächlich in einem Ferienklub arbeitet. Hier erfahren wir auch, wie das geht, einfach abhauen: Nachts losgehen, in ein Lokal, zum Bahnhof, irgendwann dann kein Zurück mehr:
Käme ich gegen Acht zur Tür herein, könnte ich mich nicht damit herausreden, die Nacht durchgearbeitet zu haben. Aber was sagte ich dann? Die Wahrheit? Ich hätte mitten in der Nacht das Haus verlassen, mich in einem Jazzclub wiedergefunden, dort etwas getrunken, sei anschließend zum Hauptbahnhof gegangen und in einen ICE nach Bern eingestiegen? Berthold hätte sofort darauf gedrängt, dass ich mich von einem Psychiater untersuchen ließe.
"Flüchtige Bekannte" handelt von der Sehnsucht, wegzulaufen, die beruflichen und sozialen Zwänge und die Bürden von Beziehung und Familie hinter sich zu lassen. Manchmal vielleicht ein wenig banal, wenn die Frau Badefliesen aussuchen oder ein Kind bekommen will, was dem Protagonisten die Kehle zuschnürt. Aber für manche vielleicht durchaus eine realistische Reaktion auf den gesellschaftlichen Druck, funktionieren und gewisse Erfolgsmarker erreichen zu müssen.